Unheilvolle Minuten (German Edition)
sie einen zum Wahnsinn treiben konnte. Selbst wenn er sich einer grünen Ampel näherte, verlangsamte er die Geschwindigkeit, aus Sorge, die Ampel könnte auf Gelb springen, während er in die Kreuzung einbog. Er befolgte alle Verkehrsregeln und hatte noch nie einen Strafzettel erhalten, noch nicht mal für Überziehen der Parkzeit.
Aber die Art, wie er jetzt durch die Straßen von Burnside fuhr, konnte man nur noch als hemmungslos bezeichnen. Er schoss so tollkühn um eine Ecke, dass der Motor protestierte und die Reifen quietschten, als säße ein wild gewordener Jugendlicher am Steuer. In den Augen ihres Vaters war jeder Jugendliche am Steuer ein Wilder.
Das Tempo, in dem sie fuhren, wäre gar nicht nötig gewesen, denn das Krankenhaus war nur wenige Häuserblocks von ihrem Haus entfernt. Aber ihrem Vater schien die hohe Geschwindigkeit Spaß zu machen, während ihre Mutter sich mit beiden Händen an den Kopf fasste, als hielte sie einen unsichtbaren Hut fest. Jane und Artie sahen einander begeistert an.
Zum ersten Mal in seinem Leben stellte ihr Vater den Wagen im Parkverbot ab, direkt vor der Treppe zum Krankenhauseingang. Er sprang zur Tür hinaus, rannte vorne um den Wagen herum und wartete darauf, dass der Rest der Familie zu ihm kam.
Es war kaum zu glauben, aber in Kürze würden sie Karen wach erleben, sie sprechen hören, vielleicht sehen, wie sie sich im Bett aufsetzte oder es sogar verließ.
»Gehen wir«, rief ihr Vater ungeduldig über die Schulter nach hinten, eine herrliche Ungeduld, und er führte sie über die Treppe zum Eingangstor.
Karen musterte ihre Mutter und ihren Vater, Jane und Artie. Sah sie klar und deutlich; nicht einmal der Rand ihres Gesichtsfelds war auch nur im Geringsten verschwommen. Zuvor war diese Verschwommenheit da gewesen, wenn sie versuchte, sich auf entfernte Gegenstände im Zimmer zu konzentrieren. Es machte sie traurig, wie besorgt ihre Familie sie ansah. Aber da war noch etwas anderes als Besorgnis. Erwartung. Das Wort kam Karen seltsam vor, aber das war’s. Sie machten Gesichter, als erwarteten sie, dass etwas passierte. Und einen Augenblick lang ärgerte sich Karen darüber. War es nicht genug, dass sie wieder da war, zurückgekehrt von – sie war sich nicht sicher, von woher, aber auf jeden Fall von sehr, sehr weit weg. Und überhaupt, was erwarteten sie denn von ihr? Dass sie aufsprang und sang und tanzte? Sie ging mit sich selbst ins Gericht, sagte sich, dass sie sich freuen sollte, nach all den Wochen der Dunkelheit wieder da zu sein.
Sie lächelte ihre Familie an. Oder brachte zumindest etwas zu Stande, von dem sie hoffte, dass es ein Lächeln war. Arrangierte ihre Lippen, wie sie es mit Blumen machen würde, wenn sie einen Strauß band. Das war natürlich ein verrückter Vergleich. Aber alles war verrückt. Dass sie hier im Krankenhaus war, all diese Wochen des Nichts, noch nicht mal Schlaf – es war nicht wie Schlafen gewesen, auch wenn sie es nicht in Worten ausdrücken konnte, wie es gewesen war, im Koma zu liegen.
Sie starrten sie immer noch an. Ihr Vater, wie gewöhnlich mit Anzug und Krawatte, starrte. Ihre Mutter, die Frisur etwas verrutscht, starrte. Jane, angetan mit einem neuen blauen Pullover, den Karen noch nie gesehen hatte, starrte. Und Artie, der videoverrückte Artie mit seinen Nintendos, starrte ebenfalls. Das Ganze war gespenstisch.
Sie wollte mit ihnen reden. Erklären. Ihnen erklären, dass es ihr gut ging, trotz allem, was der Arzt ihr erzählt hatte: Dass sie zu Hause die Treppe hinuntergefallen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, die Treppe hinuntergefallen zu sein. Sie erinnerte sich an etwas, wusste aber nicht so recht, was das war. Sie erinnerte sich an Schatten. Erinnerte sich an Angst, wie sie sich als kleines Mädchen geängstigt hatte, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte, voll Groll auf Jane, die immer sofort einschlief und nachts nie aufwachte und sich fürchtete. Sie erinnerte sich nicht an den Sturz über die Treppe. Kannst du dich noch an etwas anderes erinnern?, hatte der Arzt sie gefragt. Sie wusste den Namen des Arztes nicht mehr. Er hatte ihr den Namen gesagt, aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie hatte sich den Namen merken wollen, denn der Arzt war sehr nett gewesen. Er gab ihr Antwort, noch bevor sie die Fragen stellte. Tatsächlich war sie gar nicht in der Lage, Fragen zu stellen. Aus irgendeinem blöden Grund konnte sie nämlich nicht sprechen. Sie hatte vergessen, wie das ging. Das war
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