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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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Ausdruck) waren regelgerecht, bis auf ihre Unfähigkeit zu sprechen. Die hatte jedoch vermutlich keine physische Ursache (das war jetzt ein Ausdruck des Psychiaters), sondern es handelte sich um eine vorübergehende Störung.
    Sie ließ es zum siebten Mal klingeln, zum achten Mal. Hoffentlich war Buddys Mittagessen mit seinem Vater gut verlaufen. Er war über diese Einladung so aufgeregt gewesen wie ein kleiner Junge, der mit seinem Daddy in den Zirkus geht.
    Als sie gerade auflegen wollte, nahm er ab. »Hallo.« Seine Stimme klang undeutlich, bedrückt. War etwas nicht in Ordnung?
    »Buddy«, sagte sie, »wie war’s beim Mittagessen?« Bitte sag, dass es schön war, dass du dich mit deinem Vater gut verstanden hast.
    »Okay«, sagte er ohne jede Begeisterung. War das Mittagessen schiefgelaufen? Doch damit würde sie sich später befassen.
    »Karen ist aus dem Koma erwacht«, sagte sie, konnte ihre freudige Erregung nicht länger bezähmen. »Ich rufe vom Krankenhaus an – sie wird wieder gesund …«
    Schweigen von Buddy. Es ärgerte sie ein wenig, dass das Mittagessen nicht gut verlaufen war und dadurch ihre Nachricht von Karen verdorben wurde.
    »Das ist ja großartig«, sagte er. Seine Worte dröhnten voller Begeisterung durch die Leitung. Spielte er ihr etwas vor? Er hörte sich jetzt zu begeistert an, irgendwie war seine Stimme zu laut, zu schrill. »Da freut ihr euch bestimmt. Ich meine, deine Eltern müssen jetzt wie auf Wolken wandeln.«
    Seine Stimme klang immer noch unecht. Das Mittagessen musste schrecklich gewesen sein. »Nur eins ist nicht in Ordnung«, sagte sie. »Karen kann nicht sprechen. Der Arzt sagt, das ist psychisch bedingt. Hör mal, können wir uns treffen? Kannst du nach Burnside kommen? Wir könnten eine Cola trinken oder so, und dabei kannst du mir vom Mittagessen mit deinem Vater erzählen, und ich erzähle dir von Karen …«
    »Klar, gern«, sagte er, und seine Stimme war wieder normal, die Stimme des Buddys, den sie kannte und liebte.
    »Gib mir fünfzehn Minuten, dann bin ich da«, sagte er.
    Nach all dieser Zeit vermochte seine Stimme sie immer noch zu entzücken.
    Der Rächer traute seinen Augen nicht.
    Da war sie, Jane Jerome, seine Jane, zusammen mit einem der Täter. Stand neben ihm auf dem Bürgersteig, hielt seine Hand. Schaute zu dem Täter empor, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Sah zu ihm mit einem – wie? – zärtlichen Ausdruck auf. Mit einem Blick der Liebe.
    Der Rächer blieb stocksteif stehen. Das heißt, er stand nach außen hin still. In seinem Inneren war alles in Bewegung, ein einziger Aufruhr. Das Blut schoss ihm durch die Adern, in seinen Schläfen pochte es, sein Gesicht wurde heiß und immer heißer, so dass er schon befürchtete, seine Backen würden explodieren und sein Fleisch in Fetzen durch die Luft fliegen und die Häuserwände bekleckern. Gleichzeitig musste er auf die Toilette, so dringend, dass er Angst hatte, ihm könnte gleich hier auf der Main Street vor der Drogerie Dupont ein Malheur passieren. Aber als die beiden die Straße überquerten und in seine Richtung gingen, wurde sein dringendes Bedürfnis von einer anderen Notwendigkeit überlagert – nämlich der, sich zu verstecken. Er musste hier weg, außer Sichtweite. Auf der Suche nach einem Fluchtweg drehte er sich um die eigene Achse und sah den Durchgang zwischen der Drogerie und dem Video-Laden von Burnside. Er lief eilig in das Gässchen und presste sich an die Hausmauer. Sah Jane und den Täter vorbeigehen, immer noch Händchen haltend. Er wartete einen Augenblick, umgeben vom Müllgestank aus einer Tonne in der Nähe. Atmete nicht, wollte den Gestank nicht einatmen, wollte den Gestank nicht in seinen Körper einlassen.
    Nach einer Weile trat er aus dem Gässchen hervor. Konnte die beiden nirgendwo sehen. Langsam ging er zum Video-Laden, sah ins Schaufenster, schirmte die Augen mit der Hand ab. Sah sie. Jane und den Täter. War es wirklich der Täter? Er kniff die Augen zusammen, musterte ihn. Ja, das war einer von ihnen, ganz klar. Ohne jeden Zweifel. Die Gesichter der Täter waren wie mit einem Brenneisen in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war nicht der Täter mit dem Hammer und nicht der Dicke, der am lautesten geschrien hatte, und nicht der Dünne, Rattenartige. Aber einer von ihnen. Gut aussehend und dennoch böse. Man kann ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen, pflegte seine Mutter zu sagen.
    Wusste Jane, dass er einer der Täter war? Vielleicht wusste sie es

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