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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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Grau in Grau. Er schlenderte ins Schlafzimmer seiner Eltern hinüber. Sah das ungemachte Bett. Ein ungemachtes Bett wäre unmöglich gewesen, als sein Vater noch im Haus war. Verknäulte Laken, das Kissen zerknittert und platt gedrückt – das war so traurig, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Seiner Mutter schien jetzt alles egal zu sein. Sie hatte nichts mehr davon gesagt, dass sie Exerzitien machen wollte, und er hatte es verabsäumt, sie danach zu fragen, ob sie es sich anders überlegt hatte. Er sollte mehr Interesse für seine Mutter aufbringen, für Addy und für das, was in ihrem gemeinsamen Leben vor sich ging. Noch ein Grund mehr für Trübsal.
    In die Garage ging er aus reiner Neugier. Da er wusste, dass er seinem Gedächtnis neuerdings nicht ganz trauen konnte, wollte er nachsehen, ob die Flasche noch da war. Trinken würde er ganz bestimmt nicht daraus, nicht in diesem Stadium der Ereignisse. Er pfiff leise vor sich hin, griff unter den Haufen Schrott, der dort wie gewöhnlich lag, und suchte die Flasche in ihrer braunen Papiertüte. Holte sie hervor und betrachtete sie. Immer noch versiegelt. Denk an Jane. Und immer einen Tag nach dem anderen angehen. Er schob die Flasche wieder in die Tüte und legte sie ins Versteck zurück. Dann stand er da und war traurig. Mehr als traurig. Niedergeschlagen, deprimiert, mit der Welt zerfallen. Unentschlossen.
    Das Telefon klingelte, weit weg, im Haus. Lass es klingeln. Er dachte an die Flasche in der Tüte, so nahe. Wenn er jetzt nur ein, zwei Schlückchen trank, gerade genug, um den Kanten die Spitze zu nehmen, die rauen Stellen zu glätten? Das Klingeln ging weiter. Nimm erst ab. Dann sehen wir weiter.
    Er ging ins Haus, war jetzt voller Angst, dass er nicht mehr rechtzeitig ans Telefon käme, dass der andere Teilnehmer, wer auch immer es sein mochte, auflegen würde, bevor er abnehmen konnte. Aber es klingelte immer noch. Als er den Hörer abnahm, hörte er zu seinem Erstaunen die Stimme seines Vaters.
    »Buddy, wie geht’s dir?«
    Ohne auf Antwort zu warten, fuhr sein Vater fort: »Ich wollte gern mal ein Treffen vereinbaren.«
    Aus Buddys Kopf verschwand jeder Gedanke an die Flasche in der Garage und er hörte sich antworten: »Super, Dad. Wann immer du willst. Morgens, mittags oder abends.«
    Eben noch nicht da. Im nächsten Augenblick da.
    So kam sie beim zweiten Mal zu Bewusstsein. Sie wusste nicht genau, wie oder wann, nur dass sie plötzlich gegenwärtig und lebendig war, hier auf dem Planeten Erde, und zur Zimmerdecke hochstarrte. Durch die Decke zog sich ein Riss, der ihr seltsam vertraut vorkam. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Decke weg, richtete sie auf den Rest des Zimmers und wusste sofort, dass sie im Krankenhaus war, und zwar schon lange. Ihr war nicht klar, woher sie das wusste, aber sie war sich dieses Wissens so sicher, als hätte sie es in ihren Körper aufgenommen, wie sie die Flüssigkeit aufnahm, die von der neben ihrem Bett angebrachten Flasche in ihren Arm tropfte. Sie lauschte dem leisen Piepsen und Surren einer Maschine in ihrer Nähe und schloss die Augen, war damit zufrieden, benommen und verträumt im Bett zu liegen.
    Geräusche drangen an ihr Ohr, sprangen sie regelrecht an, so verstärkt, als wären ihre Ohren die Lautsprecher einer riesigen Stereoanlage. Schritte patschten auf flachen Sohlen vorbei, eine Tür fiel ins Schloss, dann ein gedämpfter Schrei – all diese Laute klangen ihr süß in die Ohren, als wäre sie lange Zeit taub gewesen und könnte plötzlich wieder hören. Ein leises Scharren – sie lauschte gespannt, versuchte alle anderen Geräusche auszuschalten. Mehr als nur ein Scharren, eine Art Pfeifen – natürlich, ein Vogel, ein Rotkehlchen an ihrem Fenster. Lauter als ein Rotkehlchen; vielleicht ein Häher.
    Schritte mischten sich unter das Schreien des Hähers. Sie schaute zur Tür, und eine Krankenschwester kam ins Zimmer. Ein lustiges Gesicht, Apfelbäckchen, Brille auf der Nase und ein Lächeln freudigen Erstaunens, als sie sah, dass Karen wach war.
    Hallo, wollte Karen sagen. Ich bin Karen Jerome, und ich weiß nicht, wo ich war, aber jetzt bin ich wieder da.
    Als sie zu sprechen versuchte, kamen die Worte nicht über ihre Lippen. Ihr Mund bewegte sich vergebens. Es war, als gehörte er nicht zu ihr.
    Rasen . Das war das Wort, mit dem Jane den Fahrstil ihres Vaters beschrieb, als sie zum Krankenhaus fuhren. Normalerweise war ihr Vater ein sicherer Fahrer. Seine Vorsicht ging so weit, dass

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