Unmoralisch
aber nicht genau, ob es ihre Leiche ist«, rief Stride ihr sanft in Erinnerung.
»Aber das ist doch Wahnsinn.« Emily schüttelte den Kopf. »Ich glaube das alles einfach nicht. Mein Gott, die können ihn doch jetzt nicht einfach so auf freiem Fuß lassen. Sie müssen den Rest der Verhandlung vertagen. Man muss Ihnen doch genug Zeit geben zu beweisen, dass es tatsächlich Rachel ist.«
Dan seufzte, und Stride wusste genau, was er dachte. Es war zu wenig, und es kam viel zu spät.
»Das muss die Richterin entscheiden«, sagte Dan.
14
»Eine Vertagung?«
Richterin Kassels Augenbrauen schossen förmlich in die Höhe, und ihre Stimme hob sich um fast eine Oktave. »Bitte sagen Sie mir, Mr Erickson, dass das nur eine weitere Kostprobe Ihres hinreißenden Sinns für Humor ist.«
Dan breitete ergeben die Arme aus. »Mir ist völlig klar, dass das ungewöhnlich ist, Euer Ehren.«
»Ungewöhnlich?«, schnaubte Gale. »Unerhört trifft es wohl besser.«
Die beiden Männer traten noch näher an die Richterbank heran. Hinter ihnen war der Gerichtssaal wieder voll besetzt, die Menge schwirrte vor gedämpften Gesprächen. Richterin Kassel schwang den Hammer, doch es kehrte nicht allzu viel Ruhe ein. Am Tisch der Verteidigung saß Graeme Stoner, ganz allein, mit steinerner Miene. Emily saß heute direkt hinter ihm, als wollte sie ihn ihre Anwesenheit spüren lassen. Ihre Augen bohrten sich förmlich in seinen Rücken. Graeme hatte ihr zugenickt, als er sich hingesetzt hatte, hatte sich seitdem aber nicht ein Mal nach ihr umgedreht. Dennoch war es offensichtlich, dass er sie hinter sich spürte – sie war ihm so nah, dass er ihr Parfüm riechen musste.
Die Geschworenen waren noch nicht eingetroffen, sie mussten im Geschworenenzimmer bleiben, während Dan sich mehr Zeit ausbat. Und sie waren die Einzigen im ganzen Staat Minnesota, die an diesem Morgen nicht gleich nach dem Aufstehen die Schlagzeile in der Zeitung gesehen hatten:
RACHELS LEICHE?
»Etwas Derartiges hat doch niemand voraussehen können«, sagte Dan. »Im Sinne der Gerechtigkeit müssen Sie uns einfach die Zeit geben, die Leiche zu identifizieren.«
»Bis jetzt hat er sich doch auch nicht sonderlich für Leichen interessiert, Euer Ehren«, warf Gale ein.
Richterin Kassel blickte auf Dan hinunter. »Das stimmt allerdings.«
»Er war ganz zuversichtlich, die Verhandlung auch ohne den Beweis führen zu können, dass das Mädchen wirklich tot ist«, fuhr Gale fort. »Er hat seine Chance gehabt.«
»Meine Beweisführung ist noch nicht abgeschlossen«, gab Dan zu bedenken.
»Mag sein, aber es gibt trotzdem nichts mehr hinzuzufügen, Euer Ehren. Ich sehe hier keine neuen Beweise. Und keine neuen Zeugen.«
Dan schüttelte den Kopf. »Mr Gales Verteidigung fußt zu großen Teilen darauf, den Geschworenen den Eindruck zu vermitteln, dass Rachel vielleicht noch am Leben ist. Mit dieser Unterstellung hat er versucht, berechtigte Zweifel zu wecken. Wenn wir schlüssig beweisen können, dass seine diesbezüglichen Andeutungen falsch sind, müssen die Geschworenen davon erfahren.«
Die Richterin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was sagen Sie dazu, Mr Gale?«
»Eine solche Situation kann doch nur nachteilig sein«, hielt Gale dagegen. »Die Geschworenen haben alle Aussagen gehört und haben sie noch genau im Kopf. Wenn Sie der Anklage Zeit geben, die Erinnerung der Geschworenen verblassen zu lassen, dann ist das ebenso ungerecht wie unvernünftig. Möglicherweise hat diese Leiche ja gar nichts mit unserem Fall zu tun, und dann ist es zu spät, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen. Außerdem wissen wir nicht, wie lange eine solche Identifizierung dauern kann, falls sie überhaupt noch möglich ist.«
»Sie sollten froh sein über die Verzögerung, Archie«, erwiderte Dan. »Euer Ehren, trotz aller Isolation ist es durchaus möglich, dass die Geschworenen bereits von der Leiche wissen. Solche Nachrichten verbreiten sich doch leicht auf dem einen oder anderen Weg. Sie werden zu dem Schluss kommen, dass es Rachels Leiche ist, und das wird ihre Entscheidung beeinflussen. Wir sollten ihnen die Möglichkeit geben, auf der Basis von Tatsachen zu entscheiden und nicht auf der Basis von Gerüchten.«
Richterin Kassel bedachte ihn mit einem leichten Lächeln. »Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen, Mr Erickson. Tatsache ist aber, dass die Geschworenen ganz bestimmt nichts von der Leiche erfahren werden, wenn es keine weitere
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