Unmoralisch
fischte einen Dessouskatalog aus dem Poststapel auf dem Tisch hervor. Dann griff sie in Emilys Schüssel und nahm sich ein Brokkoliröschen.
»Suchst du einen Wonderbra?«, fragte Emily lächelnd. Rachel hob den Kopf und warf ihrer Mutter einen genervten Blick zu. Emily war so müde, dass sie kaum noch wusste, was sie sagte. Sie schaute aus dem Fenster in den Garten hinaus. »Es wird kalt«, sagte sie. »Du solltest Snowball nicht so lange im Garten lassen.«
Rachel blätterte eine Seite ihres Katalogs um. »Er ist nicht im Garten. Er ist vorhin vorne rausgelaufen.«
»Rausgelaufen? Wie das?«
»Er ist zwischen meinen Beinen durch, als ich nach Hause gekommen bin.«
Emily fühlte Panik in sich aufsteigen. »Ja und? Hast du ihn gesucht? Wir müssen ihn finden!«
Rachel hob den Kopf und sah Emily an. »Er ist auf die Straße gelaufen. Ein Auto hat ihn überfahren. Tut mir Leid.«
Emily sank gegen die Hintertür. Sie schlug die Hände vor den Mund. In ihrem Magen tat sich ein riesiges Loch auf, und sie begann zu keuchen. Dann spürte sie ein Brennen in den Augen und fing an, unkontrolliert zu schluchzen. Die Tränen rannen ihr über die Wangen und zwischen den Fingern hindurch. Sie biss sich auf die Lippen und rannte aus der Küche. Als sie versuchte, Luft zu holen, gelang es ihr nicht. Sie wankte zur Haustür, riss sie auf und hielt sich am Geländer fest. Den kalten Wind spürte sie kaum. Sie ließ die Haustür offen und stolperte in die Einfahrt hinaus. Dann merkte sie, wie die Knie unter ihr nachgaben. Sie sank auf die kalten Steine, lehnte sich an den noch warmen Wagen und schloss die Augen.
Sie wusste nicht genau, wie lange sie so zusammengesunken in der Einfahrt gesessen hatte. Als sie sich endlich aufraffen konnte, sich zu bewegen, war das Auto längst kalt und ihre Glieder ebenfalls. Ihre Finger waren ganz steif vor Kälte. Die Tränen auf ihren Wangen waren zu kleinen Eisbächen gefroren. Es ist doch nur ein Hund, sagte sie sich, aber das spielte keine Rolle. Sie fühlte sich in diesem Moment sehr viel schlechter, als wenn sie nach Hause gekommen wäre und erfahren hätte, dass Rachel auf der Straße überfahren worden war.
Ziellos lief sie die Einfahrt entlang. Auf der Straße waren keine Spuren des Unfalls zu sehen. Emily sank wieder auf die Knie und starrte ins Leere. Sie war in Gedanken versunken, und die Straßenbeleuchtung war schwach, sodass sie den kleinen Gegenstand, der auf der anderen Straßenseite im Rinnstein lag, fast nicht bemerkt hätte. Er war kaum zu erkennen, wie ein Stück Abfall, das aus einer Mülltonne gefallen und dort liegen geblieben war. Eigentlich hätte sie ihn übersehen müssen. Aber irgendwie blieb ihr Blick doch daran hängen. Durch den Tränenschleier hindurch blickte sie verwirrt hinüber. Dann wurde aus der Verwirrung Entsetzen.
Sie wusste, was es war. Aber das konnte nicht sein …
Mit letzter Kraft rappelte Emily sich hoch. Zögernd ging sie über die Straße und versuchte, dabei nicht in den Rinnstein zu schauen. Aber sie konnte die Augen nicht davon abwenden. Schließlich stand sie kopfschüttelnd davor. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Auch als sie sich bückte, den verdreckten Gegenstand von der Straße aufhob und ihn vorsichtig in der Hand hielt, hoffte sie noch, sich geirrt zu haben.
Doch dann schloss sie die Faust darum.
Der Schmerz verschwand und verwandelte sich in Wut. Nie zuvor hatte sie ein so ursprüngliches Hassgefühl verspürt. Es ging nicht nur um Snowball. Es ging um all die Jahre der Grausamkeit, die sich jetzt zu einem einzigen, glasklaren Moment vereinten. Emily zitterte, die Welle von Zorn in ihrem Innern drohte sie umzureißen. Sie knirschte mit den Zähnen, und ihre Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen.
Dann schrie sie lauthals: »Rachel!« Der Name endete in einem lang gezogenen Heulen.
Emily rannte über die Straße, die Einfahrt entlang ins Haus und warf die Tür mit solcher Wucht hinter sich ins Schloss, dass die Mauern förmlich erbebten. Sie kümmerte sich nicht mehr darum, ob die Nachbarn sie hörten. Immer wieder schrie sie den Namen ihrer Tochter. »Rachel!«
Zu allem entschlossen stürmte sie in die Küche, wo Rachel immer noch unbeteiligt in dem Dessouskatalog blätterte. Völlig unbeeindruckt von Emilys Schreien hob sie den Kopf. Sie sagte kein Wort. Sie wartete nur.
»Du warst es!«, brüllte Emily gequält. »Du warst es!«
Sie streckte die Faust aus und öffnete die Finger. Auf ihrer
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