Unmoralisch
schon so lange wie ein dumpfer Schmerz in ihrem Innern, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie ohne sie leben sollte. Rachel war fort, der erbitterte Kampf war vorbei. Sie konnte sich doch unmöglich danach zurücksehnen. Tat sie das? Oder war es nicht eigentlich besser so?
Sie hatte sich schon so oft gewünscht, dass Rachel einfach verschwinden würde. Sie hatte davon geträumt, ein besseres Leben zu führen, wenn diese Last nur endlich von ihr genommen würde. Vielleicht konnte sie dann wieder eine Ehe führen. Vielleicht würde es ihr sogar leichter fallen, ihre Tochter zu lieben, wenn sie nicht mehr da war.
Was ist passiert?
»Mrs Stoner?«, fragte Bird.
Vielleicht sollte sie allen einfach die Wahrheit sagen. Wenn sie das Geheimnis erst einmal kannten, würden sie sie vielleicht in Ruhe lassen. Und die Wahrheit war: Rachel war böse.
Emily hatte in den Jahren nach Tommys Tod. gleich zwei Jobs, um die Schulden abzutragen und sich aus dem Abgrund wieder herauszuarbeiten, in den er die Familie gestürzt hatte. Von acht bis fünf arbeitete sie als Bankangestellte in der städtischen Filiale der Range Bank. Anschließend sprang sie ins Auto, fuhr so schnell wie möglich zur Miller Hill Mall und verkaufte dort in einem Buchladen Liebesromane und Playboyhefte, bis das Einkaufszentrum um neun schloss. Den Rest der Welt nahm sie nur wie durch einen Nebel wahr, und sie war wie betäubt vom Stress und vom Schlafmangel.
Ihr einziger Lichtblick war drei Wochen zuvor in ihr Leben getreten, als sie einen West-Highland-Terrier aus dem Tierheim geholt hatte. Nach Jahren, in denen nur Stille oder Rachels stumme Feindseligkeit sie empfangen hatte, wenn sie nach Hause kam, tat es ihr gut, dass der Hund das Haus mit Lärm und Leben erfüllte. Ursprünglich hatte Emily an Rachel gedacht, als sie den Hund ins Haus gebracht hatte. Doch Rachel kümmerte sich nicht um ihn, und Emily führte ihn Abend für Abend nach draußen in den Garten, warf sein blaues Kauspielzeug, das er zurückbrachte, immer und immer wieder.
Dabei hatte sie eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Der kleine weiße Hund mit den kurzen Beinen und dem schmuddeligen Fell hatte den Schutzwall durchbrochen, den sie um sich errichtet hatte. Sie stellte fest, dass sie sich wieder darauf freute, nach Hause zu kommen. Der Hund begrüßte sie so überschwänglich, als wäre sie der liebste und wichtigste Mensch auf Erden. Er schlief auf ihrem Schoß und in ihrem Bett. Am Wochenende machten sie gemeinsam lange Spaziergänge, und der Hund bestimmte die Richtung, zerrte an der Leine und zog sie hinter sich her, kreuz und quer durch die Straßen.
Rachel hatte ihm keinen Namen geben wollen, deshalb hatte Emily ihn »Snowball« genannt. Er war klein, weiß und schnell, und wenn er ihr morgens seine kalte Nase ins Gesicht stupste, fühlte sich das an wie kühler Schnee.
Obwohl sie todmüde war, lächelte sie jetzt auf der Heimfahrt beim Gedanken an Snowball. Nur wenn sie an Rachel dachte, kehrten die Sorgenfalten in ihr Gesicht zurück, und das Lächeln wich einem erschöpften Stirnrunzeln. In der ersten Zeit nach Tommys Tod war sie mit Rachel zu einem Therapeuten gegangen, doch das Mädchen hatte sich schon nach ein paar Sitzungen geweigert, weiter hinzugehen. Emily hatte mit ihren Lehrern gesprochen und mit Dayton in der Kirche. Alle waren sehr verständnisvoll gewesen, aber trotzdem war es niemandem gelungen, zu ihr durchzudringen. Rachel würde den Schmerz über Tommys Tod niemals verwinden. Linderung schien sie nur zu finden, indem sie ihre Mutter immer und immer wieder dafür strafte.
Emily hielt in der schmalen Einfahrt ihres kleinen Hauses. Es war zweistöckig, hatte zwei Schlafzimmer im oberen Stockwerk und einen kleinen Garten, um den sich schon lange niemand mehr gekümmert hatte. Zwischen den rissigen Platten in der Einfahrt wuchsen kleine Grasbüschel.
Drinnen wartete sie auf das Trappeln von Pfoten und darauf, dass Snowball angeschossen kam, um sie zu begrüßen.
»Snowball«, rief sie und lauschte auf entferntes Bellen. Vielleicht hatte Rachel den kleinen Hund ja in den Garten gesperrt.
Emily ging durch den Flur in die Küche. Ihr knurrte der Magen. Sie nahm eine Plastikschüssel mit Brockoliröschen aus dem Kühlschrank und aß ein paar davon. Dann hörte sie ihre Tochter die Treppe herunterkommen. Rachel trat ohne ein Wort der Begrüßung in die Küche. Sie zog ihr Sweatshirt bis zu den Knien hinunter, ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und
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