Unmoralisch
veröffentlicht keinerlei Belege dafür, dass man der Lösung dieser furchtbaren Rätsel auch nur einen Schritt näher gekommen ist. Den Familien in Duluth steht indes eine weitere unruhige Nacht bevor. Wenn ihre Töchter morgens zur Schule gehen, fragen sie sich, ob sie wohl heil nach Hause kommen werden. Wann immer ihre Töchter Freunde besuchen, rufen die Eltern an, um sich zu vergewissern, dass sie auch wohlbehalten angekommen sind. Das bewirkt die Angst. Es ist der Preis der Ungewissheit. Denn in Duluth stellen sich alle nur eine Frage: Was ist passiert?«
Bird sah direkt in die Kamera, als stünde er bei jedem Einzelnen seiner Zuschauer im Wohnzimmer.
»Was ist passiert? Lauert ein Serienmörder den jungen Frauen von Duluth auf? Ist noch jemand in Gefahr? Wird auch diesmal wieder ein Jahr bis zum nächsten Verbrechen vergehen, oder ist die Geduld des Killers bereits erschöpft? Ist er heute Abend schon wieder unterwegs, streift in seinem einsamen Wagen durch die Straßen und fährt langsamer, wenn er jemanden kommen sieht?«
Die Worte brannten wie saure Drops auf seiner Zunge. Die Angst war greifbar, er konnte sie spüren, und er wusste, dass er sie jetzt im ganzen Staat verbreiten würde. Doch Bird hatte kein schlechtes Gewissen. Die Leute sollten sich schließlich fürchten.
»Wir kennen die Antworten auf diese Fragen nicht«, fuhr er leise fort. »Wir wissen nicht, was in diesen beiden Nächten, zwischen denen etwas mehr als ein Jahr liegt, vorgefallen ist. Wir hoffen weiß Gott alle, dass Kerry und Rachel irgendwo in Sicherheit sind und wir sie bald wieder heil und gesund zu Hause bei ihren Eltern sehen. Doch bis dahin erwarten die Bürger dieses Staates Antworten von der Polizei – und diese Antworten sind schon lange überfällig.«
Bird wandte sich an Barbara McGrath. »Nun wollen wir hören, was die anderen Opfer dieser Verbrechen zu sagen haben, die Eltern, die leiden und sich sorgen. Mrs McGrath, was sagt Ihnen Ihr Herz? Ist Kerry noch am Leben?«
Emily hörte die Antwort der anderen Frau. Sie sagte genau das, was man erwarten konnte. Ja, Kerry sei noch am Leben, das fühle sie ganz deutlich. Sie wisse, dass ihr Kind noch irgendwo dort draußen sei, und sie werde die Hoffnung niemals aufgeben, solange man Kerry nicht gefunden habe. Dann drehte sich diese Fremde da neben ihr, Barbara McGrath, um und sprach direkt in die Kamera, flehte sie förmlich an.
»Kerry, wenn du da irgendwo bist«, sagte sie, »wenn du das hören kannst, dann sollst du wissen, dass wir dich lieben. Wir denken jeden Tag an dich. Und wir wollen, dass du wieder zu uns nach Hause kommst.«
Dann ließ sich Barbara mit einem Seufzer von ihren Gefühlen überwältigen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Mann beugte sich zu ihr herüber, und Barbara lehnte den Kopf an seine Schulter. Er legte die Hand auf ihr dunkles Haar und strich ihr sanft über den Kopf.
Emily betrachtete die beiden merkwürdig distanziert. Sie hatte das Gefühl, weit weg zu sein. Als sie zu Graeme hinüberschaute, sah sie, dass auch er die beiden musterte. Auf seinem Gesicht lag ein schwer durchschaubarer Ausdruck, der keinerlei Gefühle verriet. Sie fragte sich, ob er wohl dasselbe empfand wie sie: Neid. Sie beneidete diese Leute um ihren reinen, ungetrübten Schmerz und um die Fähigkeit, einander Trost und Kraft zu geben. Sie selbst hatte nichts von alldem. Deshalb hatte sie sich auch so lange geweigert, dieses Interview zu geben – sie hatte gewusst, dass sie in vielen Punkten lügen musste. Sie musste sagen, was von ihr erwartet wurde, auch wenn sie es ganz anders empfand. Sie würde sagen, wie sehr sie Rachel vermisste, und sich dabei fragen, ob das tatsächlich so war. Sie würde nach Graemes Hand greifen, um Unterstützung zu finden, und doch nichts weiter spüren als einen leblosen Händedruck.
Der einzige Mensch, der sie verstand und ihr helfen konnte, war nicht hier.
Sie hatte das Gefühl, wie ein Geist über der Bühne zu schweben. Sie hörte, dass Bird Finch sie ansprach, aber seine Stimme schien vom anderen Ende eines langen Tunnels zu kommen.
»Mrs Stoner, wollen Sie Rachel etwas sagen?«, fragte Bird.
Emily blickte starr in die Kamera, auf das rote Licht, das darüber blinkte. Sie war wie hypnotisiert. Es kam ihr vor, als sähe sie Rachel tatsächlich, irgendwo dort im dunklen Spiegel der Kameralinse, und als könnte Rachel auch sie sehen. Emily begriff nicht recht, was sie gerade empfand. Die Feindseligkeit begleitete sie
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