Unmoralisch
spürte, dass sie unschlüssig wurde.
»Tut mir Leid, das hätte ich wahrscheinlich gleich sagen sollen. Aber ich meine das ganz ohne Hintergedanken. Sie haben gesagt, dass es Ihnen da drinnen zu laut ist, und auf meiner Veranda ist es schön ruhig, man hört nur die Wellen. Aber wir können auch woanders hingehen.«
Andrea schaute aus dem Fenster. »Nein, das ist schon in Ordnung. Schließlich sind Sie ja Polizist, oder? Wenn Sie frech werden, kann ich immer noch … Sie rufen.« Sie lachte und wirkte wieder gelöster.
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ganz sicher. Aber geben Sie sich bloß Mühe mit den Margaritas.«
Ein paar Blocks nach der Brücke erreichten sie sein Haus, und Stride bog in das sandbestreute Wegstück ein, das ihm als Einfahrt diente. Die Straße war still und dunkel, als sie ausstiegen. Mit einem erstaunten Lächeln betrachtete Andrea Strides kleines Häuschen und das Gewirr aus struppigen Sträuchern im Vorgarten. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie am Point wohnen«, sagte sie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Wundert Sie das?«
»Es ist so unwirtlich hier draußen. Und wenn es stürmt, muss es furchtbar sein.«
»Das stimmt«, gab er zu.
»Und im Winter werden Sie wahrscheinlich vollkommen eingeschneit.«
»Manchmal reichen die Schneeverwehungen bis zum Dach.«
»Macht Ihnen das denn keine Angst? Ich hätte immer das Gefühl, dass der See mich irgendwann verschluckt.«
Stride stützte sich auf das Autodach und sah sie nachdenklich an. »Das mag jetzt verrückt klingen, aber manchmal denke ich, die Unwetter sind mir sogar am liebsten. Gerade deshalb wohne ich hier.«
»Das verstehe ich nicht.« Andrea klang verwirrt. Ein Windstoß fegte durch die Straße, und sie fröstelte.
»Gehen wir rein.«
Auf dem Weg zum Haus legte er den Arm um sie, um sie zu wärmen, und sie schmiegte sich ein wenig an ihn. Es fühlte sich gut an. Durch den Ärmel des Ledermantels hindurch spürte er ihre Schulter, und ihr Haar streifte seine Wange. Er ließ sie los, um den Schlüssel aus der Tasche zu holen. Andrea schlang die Arme um den Oberkörper.
Stride schloss auf. Im Flur war es dunkel und warm, und er hörte das Ticken der Standuhr. Er machte die Tür zu, und sie blieben schweigend dicht beieinander stehen. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Andrea Parfüm trug, einen sanften Duft, Rosenwasser vielleicht. Es war eigenartig, das Parfüm einer anderen Frau im Haus zu riechen.
»Wie haben Sie das mit den Unwettern gemeint, Jon?«
Stride nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in den Garderobenschrank. Leicht gekleidet, wie sie war, schien sie immer noch zu frieren. Er hängte seine Jacke auf, schloss die Schranktür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Andrea sah ihn an, das merkte er, obwohl sie beide nur Umrisse im dunklen Flur waren.
»Es ist, als würde die Zeit stillstehen«, sagte er schließlich. »Als würde das Unwetter mich in sich hineinziehen, und als könnte ich dann alles sehen und hören. Ein paar Mal hätte ich schwören können, die Stimme meines Vaters gehört zu haben. Und einmal habe ich ihn, glaube ich, auch gesehen.«
»Ihren Vater?«
»Er hat auf einem Eisenerzschiff gearbeitet. Als ich vierzehn war, hat es ihn bei einem der Dezemberstürme von Bord gefegt.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Das tut mir Leid.«
Stride nickte schweigend. »Sie frieren immer noch.«
»War ja auch blöd, mich so anzuziehen.«
»Sie sehen wunderschön aus«, sagte Stride. Er spürte das heftige Verlangen, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, aber er hielt sich zurück.
»Das ist süß von Ihnen. Aber ich friere trotzdem.«
»Wollen Sie einen Pulli und eine Jeans? Ich fürchte, was Schickeres kann ich Ihnen nicht anbieten.«
»Nein, es geht schon. Hier drinnen ist es ja warm.«
Stride lächelte. »Dabei wollte ich gerade vorschlagen, dass wir uns auf die Veranda setzen.«
»Auf die Veranda?«
»Sie ist überdacht, und ich habe zwei sehr gute Heizlüfter.«
»Ich werde mir den Hintern abfrieren, Jon«, sagte Andrea.
»Das wäre allerdings ein Jammer, wo es doch so ein hübscher Hintern ist.«
Selbst im Dunkeln spürte er, dass sie rot wurde.
Sie gingen in die Küche, und beide blinzelten, als Stride das Licht anmachte. Entsetzt stellte er fest, dass die letzten drei arbeitsreichen Wochen den Raum ins Chaos gestürzt hatten – vor allem die Spüle, in der sich schmutziges Geschirr türmte. Auch die Sitzecke hatte er seit mindestens zwei Tagen nicht mehr
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