Unmoralisch
bevor er sie aussprach. »Ja, er gibt mir Anlass zur Hoffnung. Wir haben jetzt eine Spur und einen konkreten Ort, das wird uns möglicherweise ein paar Fragen beantworten. Und ich möchte einen Appell an alle Fernsehzuschauer richten: Wenn Sie an dem Abend, als Rachel verschwunden ist, hier in der Gegend waren und Ihnen irgendetwas aufgefallen ist, melden Sie sich bitte bei uns. Wir wissen, dass Rachel hier war. Aber wir wollen auch wissen, wie sie hierher gekommen ist. Wir wollen wissen, was passiert ist.«
Er zeigte auf einen weiteren hochgereckten Arm.
»Wie lange werden Sie hier noch zu tun haben?«, fragte die Redakteurin einer Zeitung aus Saint Paul.
»Vermutlich die ganze Nacht«, sagte Stride.
Und so war es auch.
Jedes Mal, wenn die Beamten ein Planquadrat durchsucht hatten, brachten sie die Plastiktütchen mit den Beweisen in den Polizeibus, und Stride und Maggie sahen sie durch und ordneten sie anschließend in Karteikästen ein. Stride konnte nichts davon mit Rachel in Verbindung bringen und wusste doch, dass er vielleicht gerade, ohne es zu wissen, ein wichtiges Beweisstück in der Hand hielt. Im Labor würde man ihm Genaueres sagen können.
Stride schaute auf die Uhr und sah, dass es kurz vor vier am Morgen war. Auf dem Boden des Busses lag ein leerer Pizzakarton mit zwei ungegessenen Stücken Kruste darin. Stride fragte sich, ob Guppo die wohl übersehen hatte. Maggie saß ihm gegenüber. Das Kinn sank ihr auf die Brust, und die Augen fielen ihr fast zu. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände.
Durchgefroren und müde, wie er war, erlaubte Stride sich einen Gedanken an Andrea. Sie hatte sich verständnisvoll gezeigt, als er angerufen und die Verabredung abgesagt hatte, aber er war froh gewesen, Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören. Er war ja selbst enttäuscht. Er wusste nicht, ob es am Sex lag oder einfach nur an der Aussicht darauf, endlich wieder einer Frau nahe zu sein, aber er wollte sie unbedingt wiedersehen. Sie war sehr anziehend. Natürlich war sie nicht wie Cindy, aber das konnte ja auch gar nicht sein. Andrea war eben anders. Er durfte sie nicht mit einem Geist vergleichen.
Als es im Lautsprecher zu knistern begann, zuckte Stride zusammen und fragte sich, ob er vielleicht ein paar Sekunden eingeschlafen war. »Es fängt an zu schneien«, meldete einer der Beamten von draußen.
»Na, großartig«, brummte Stride.
Er stand auf und versuchte, sich in dem engen Bus zu strecken. Seine Muskeln waren verspannt, und er hatte Rückenschmerzen. Normalerweise machte er jeden Abend ein paar Übungen, um den Rücken beweglich zu halten, aber das hatte er jetzt schon mehrere Abende hintereinander ausfallen lassen. Es rächte sich sofort. Sein Arm schmerzte an der Stelle, wo ihn vor Jahren die Kugel getroffen hatte. Das verschlimmerte sich immer, wenn es kalt wurde.
Stride schaute aus dem vereisten Hinterfenster des Wagens. Im Schein der Lampen, die sie für die Suche aufgestellt hatten, sah er dicke Flocken friedlich zu Boden fallen. Jede für sich wirkte klein und harmlos, doch er wusste, alle zusammen würden sie seinen Tatort schon bald unter sich begraben.
»Wie schlimm ist es?«, fragte Maggie leise.
»Schlimm genug«, antwortete Stride.
Er betrachtete den dunklen Wald und versuchte noch einmal, sich auszumalen, was sich an jenem Abend hier abgespielt hatte. Rachel saß auf dem Beifahrersitz. Jemand lenkte den Wagen hinter die Scheune. Reiner Zufall, dass gerade an diesem Abend sonst niemand dort war. Wie war das Armband nach draußen gekommen? Sie hatten bestimmt nicht draußen miteinander geschlafen, dafür war es schon viel zu kalt gewesen. Vielleicht waren sie nach draußen gegangen, um in den Wald hineinzuschauen, wie er es jetzt tat. Dann hatte der Mann versucht, Rachel zurück ins Auto zu ziehen, sie hatte das Armband verloren, sich gewehrt und … was dann?
Vielleicht war es ja schon im Wagen brenzlig geworden, und sie hatte versucht zu fliehen. Er war ihr gefolgt. Sie hatte sich gewehrt und dabei das Armband verloren. Er hatte sie geschlagen. Sie erwürgt. Aber was hatte er dann mit der Leiche gemacht? Hatte er sie irgendwo im Wald versteckt? Hatte er sie mit dem Auto zu einem anderen Versteck gebracht?
Stride hörte, wie der Lautsprecher wieder zum Leben erwachte.
»Weiß einer von euch noch, was Rachel an dem Abend angehabt hat?«, fragte ein Beamter von draußen.
Stride und Maggie wechselten einen Blick, und Maggie antwortete aus dem
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