Unmoralisch
Gedächtnis. »Schwarze Jeans, weißer Rollkragenpulli.«
Der Lautsprecher schwieg.
Ein paar Sekunden später kam die Frage: »Weißer Rollkragenpulli, sagt ihr?«
Stride antwortete: »Ja, genau.«
Wieder schwieg der Lautsprecher, diesmal deutlich länger. »Gut, Leute. Ich glaube, wir haben hier was.«
Das dreieckige Stückchen Stoff war nicht besonders groß, ein Fetzen, vielleicht zehn Zentimeter breit und an den Rändern ausgefranst. Obwohl es schmutzverklebt war, sah man doch, dass es ursprünglich einmal weiß gewesen war. An einer Seite, wo es vom Rest des Kleidungsstücks abgetrennt worden war, hatte ein rötlich brauner Fleck die Fasern durchtränkt.
7
Emily hatte das Gefühl durchzudrehen. Seit dem furchtbaren Moment damals, als sie Rachel verprügelt hatte, hatte sie sich nicht mehr so entsetzlich gefühlt. Sie trieb allein auf offenem Meer, ohne jede Hoffnung auf Rettung.
Verzweifelt lief sie auf und ab, als wollte sie eine Schneise in den Teppich schlagen. Sie hielt die Hände an die Stirn gepresst, und die gespreizten Finger umschlossen ihren Kopf wie ein Schraubstock. Das ungewaschene Haar fiel ihr strähnig ins Gesicht. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ihr Atem ging laut und stoßweise. Sie hyperventilierte. Ein pochender Schmerz erfüllte ihren Kopf, wie ein schnell wachsender Tumor.
»Ich würde Ihnen gern dieses Armband zeigen«, hatte der Detective gesagt. Sie hatte nur einen Blick darauf geworfen und laut aufgeschrien.
Emily hatte nie ernsthaft geglaubt, dass dieser Tag einmal kommen würde. Sie wusste zwar noch, was die andere Mutter, Barbara McGrath, ihr bei dem Fernsehinterview erzählt hatte. Dass sie Angst vor dem Tag habe, an dem Polizisten mit ernster Miene vor ihrer Tür stehen würden. Aber Emily hatte nicht daran geglaubt. Sie war überzeugt gewesen, dass Rachel lebte. Dass eines Tages das Telefon klingeln und sie am anderen Ende der Leitung das vertraute, spöttische Lachen hören würde.
Davon war sie überzeugt gewesen, bis sie das Armband gesehen hatte. Jetzt wusste sie: Rachel war tot. Jemand hatte sie umgebracht.
Es war, als hätten die Polizisten Emily den Boden unter den Füßen weggezogen. Auch jetzt noch, Stunden später, war sie von tiefer Verzweiflung erfüllt.
Die leisen Geräusche auf der Veranda hallten wie Donnerschläge in ihrem Kopf wider. Die Heizung summte und füllte den Raum mit warmer Luft. Die Zweige der Spireensträucher schlugen quietschend an die Fensterscheiben. Die Balken des Hauses knarzten, als wäre ein unsichtbarer Poltergeist darüber gegangen.
Aber das schrecklichste Geräusch war das leise Klappern der Tastatur. Nur ein paar Meter entfernt arbeitete Graeme an seinem Notebook und schenkte ihren Qualen keine Beachtung.
Klapper, klapper, klapper.
Emily hätte niemals damit gerechnet, dass sie beide so tief sinken würden. Und zu allem Überfluss wusste sie genau, dass sie sich das alles selbst zuzuschreiben hatte.
»Ich bin schwanger«, sagte Emily.
Angespannt wartete sie auf seine Reaktion. Sie saß in ihrem winzigen Wohnzimmer auf dem Sofa und hielt die Hände linkisch im Schoß gefaltet. Graeme saß ihr gegenüber in einem Polstersessel, einen Drink in der Hand. Es war sein zweiter seit dem Abendessen, und sie hatte ihn bereits vorher, zu der Hochrippe, die sie im Ofen gebraten hatte, mit Champagner abgefüllt.
Und schließlich, als sie beide entspannt und gelöst waren, war sie mit der Nachricht herausgeplatzt.
»Du hast doch gesagt, es kann nichts passieren«, sagte Graeme.
Emily zuckte zusammen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Keine Zärtlichkeit, keine freudige Erregung – nur leise Vorwürfe.
»Ich nehme die Pille«, erwiderte sie. »Aber nichts ist völlig sicher. Es war ein Unfall. Es war Gottes Wille.«
»Ich weiß nicht, ob wir dafür schon bereit sind«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass man jemals bereit ist«, antwortete Emily.
»Was ich damit sagen will, ist … Ich weiß nicht recht, ob wir es behalten sollten.«
Emily spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Sie atmete schwer und sprach mit bebender Stimme. »Ich werde mein Kind nicht umbringen. Das werde ich nicht tun.«
Graeme schwieg.
»Ich werde das nicht tun, Graeme«, sagte sie noch einmal. »Wie kannst du so was von mir verlangen? Es ist auch dein Kind.«
Sie stand vom Sofa auf, ging um den Couchtisch herum, kniete sich vor ihn hin und griff nach seinen Händen.
»Willst du unserem Kind denn kein Zuhause geben?«,
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