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Unmoralisch

Unmoralisch

Titel: Unmoralisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Freeman
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die Wand und wartete. Stride ging leise den Flur entlang und näherte sich der Stelle, an der das Licht aus dem Büro auf den Flur fiel. Als er näher kam, sah er, was er bereits vermutet hatte: Nancy Carvers Bürotür war nur angelehnt. Er blieb stehen und lauschte, hörte aber kein Geräusch von drinnen.
    Er räusperte sich vernehmlich. Eigentlich hatte er daraufhin irgendeine Reaktion von drinnen erwartet. Doch kein Laut durchbrach die Stille, die den Flur erfüllte.
    Stride trat so nahe heran, dass er durch den Türspalt in das Kämmerchen schauen konnte, das Nancy Carver als Büro diente. Er sah eine Ecke des Schreibtischs und die Schulter und den Arm einer Frau. Sie schien stocksteif auf dem Schreibtischstuhl zu sitzen.
    »Hallo?«, rief Stride.
    Er wartete, doch die Frau rührte sich nicht. Stride trat langsam in den kleinen Vorraum, der zum Büro führte, und schob dann die Tür ganz auf. Sie gab mit lautem Quietschen nach und schlug gegen die Querwand. Er trat hindurch und blieb auf der Schwelle stehen.
    Nancy Carver saß reglos an ihrem Schreibtisch. Als er hereinkam, sah sie ihn mit ausdruckslosem Blick aus roten Augen an. Die zornige Leidenschaft, die er beim ersten Besuch in ihren braunen Augen gesehen hatte, war verschwunden. Ihre Wangen wirkten eingefallen, das rote Haar klebte ihr am Kopf. Sie schaute durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da.
    Stride war völlig verblüfft von dieser Veränderung, und so brauchte er ein paar Sekunden, bis er die Pistole sah, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag, nur wenige Zentimeter von ihrer Hand entfernt.
    »Was zum Teufel …«, schrie er und stürzte sich auf die Pistole. Eigentlich hatte er erwartet, sie würde danach greifen, bevor er sie erreichte, und die Waffe entweder auf sich selbst oder auf ihn richten. Aber Nancy Carver rührte sich nicht. Sie sah einfach zu, wie er die Waffe vom Tisch nahm und die Patronen auf den Boden fallen ließ, wo sie durcheinander rollten.
    Schwer atmend lehnte Stride sich an die Wand. Er hielt die Pistole kraftlos in der Hand. »Können Sie mir bitte erklären, was hier vorgeht?«, fragte er.
    Und im Stillen setzte er hinzu: Und können Sie mir vielleicht auch sagen, warum gleich zwei Frauen, die mit Rachel zu tun haben, versuchen, sich umzubringen? Denn das hatte Nancy Carver offensichtlich vorgehabt.
    Sie schüttelte dumpf den Kopf. »Ich hätte ihn aufhalten können«, flüsterte sie.
    Stride beugte sich über sie. »Wen hätten Sie aufhalten können?«
    Nancy Carver hob den Kopf und sah ihn an. »Ich habe wirklich geglaubt, sie wäre weggelaufen«, sagte sie.
    Stride schwieg.
    Tränen liefen ihr über die Wangen. »Aber jetzt ist sie tot. Und ich hätte es verhindern können. Ich habe doch alles gewusst.«
    »Ich muss los«, sagte Stride zu Andrea.
    Sie saßen in seinem Jeep hinter dem Schulgebäude, in der Nähe ihres Wagens. Im Hintergrund lief leise das Radio und spielte ein Lied von Patty Loveless.
    »Sehe ich dich morgen?«
    »Ich kann es dir nicht versprechen.«
    »Willst du nicht morgen die Nacht bei mir verbringen? Es ist egal, wann du kommst. Es war so schön, am Freitag neben dir zu schlafen. Ich habe mich besser gefühlt, nur weil du in der Nähe warst.«
    »Es kann spät werden. Ich weiß nicht, wann ich fertig bin, und wahrscheinlich bin ich dann auch keine besonders gute Gesellschaft.«
    Andrea lächelte. »Ich lasse das Licht für dich brennen.«
    Sie öffnete die Tür auf ihrer Seite. Als sie aus dem Jeep stieg, rutschte ein bisschen Schnee vom Dach und bedeckte ihr blondes Haar mit weißen Flocken. Sie warf Stride eine Kusshand zu, schloss dann die Tür und lief zu ihrem Wagen hinüber. Er sah zu, wie sie einstieg und ein Streichholz aufflammte, als sie sich eine Zigarette anzündete. Ihr Wagen sprang gleich beim ersten Mal an. Im Wegfahren winkte sie ihm noch einmal zu.
    Stride fuhr nach Hause und lenkte den Wagen sehr viel weniger vorsichtig durch die leeren, glitschigen Straßen, als es eigentlich angebracht gewesen wäre. Zwei Mal blieb er zu lange vor einer Ampel stehen, die schon längst grün war, und sein Blick wanderte durch die verschmierte Windschutzscheibe ins Leere. Die Scheibenwischer quietschten in einem beharrlichen Rhythmus, der ihn in eine Art Trance versetzte.
    Ich habe doch alles gewusst.
    Er dachte an Nancy Carver und versuchte, seinen Zorn darüber zu unterdrücken, dass sie den Verdacht nicht schon Wochen vorher geäußert hatte. Vielleicht hätten sie dann sogar noch etwas tun

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