Unmoralisch
Parklücke ganz in der Nähe des Schulgebäudes. Während er rasch über den Asphalt lief, auf dem sich noch ein paar zusätzliche Zentimeter Schnee angesammelt hatten, seit die Schneepflüge durchgefahren waren, schob er die Hände tief in die Jackentaschen und blinzelte, als ihm Schneeflocken in die Augen fielen.
Das Schultor war verschlossen. Stride klopfte ans Fenster, aber offenbar war niemand in der Nähe, der ihn hören konnte. Er fluchte leise vor sich hin, presste dann das Gesicht an die kalte Scheibe und schaute hinein. Nichts.
Er zog das Handy hervor, stellte aber fest, dass der Akku inzwischen ganz leer war. Fluchend ging er über den verschneiten Rasen um das Schulgebäude herum. Er war schon fast an der Hintertür, als er Andrea aus einem Klassenzimmer am Ende des Ganges kommen sah. Sie trug eine graue Trainingshose, die ihre langen Beine betonte, Turnschuhe und einen weiten, blauen Pullover mit V-Ausschnitt. Sie schaute nicht in Strides Richtung, sondern ging schnurstracks auf den Getränkeautomaten zu, der im Flur stand. Sie schob einen Geldschein hinein, nahm eine Dose Cola Light aus dem Ausgabefach, öffnete sie und trank einen langen Schluck.
Stride klopfte an die Hintertür.
Andrea stutzte, drehte sich um und sah ihn. Ein strahlendes Lächeln überzog ihr Gesicht. Sie rannte den Flur entlang auf ihn zu, verschüttete dabei ihre Cola und lachte auf, als ein Schwall brauner Flüssigkeit auf den Boden schwappte. Sie stellte die Dose auf den Boden, wischte sich die Hände an der Hose ab und lief weiter zur Tür. Dann machte sie sie auf, griff nach Strides Hand und zog ihn hinein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und sperrte den eisigen Wind aus, und Andrea legte ihm die klebrigen Hände um den Hals, zog ihn an sich und küsste ihn. Erst war er so überrascht, dass er kaum reagieren konnte, doch dann schlang auch er die Arme um sie und erlaubte seinen Lippen, die ihren zu erforschen.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie schließlich. »Ich habe nicht mehr viel zu tun. Komm doch einfach mit und unterhalt dich ein bisschen mit mir, und später können wir dann vielleicht noch was essen gehen.«
»Das klingt großartig«, erwiderte Stride.
Als sie gemeinsam zum Chemielabor gingen, legte sie ihm den Arm um die Taille.
»Ich brauche vielleicht noch eine halbe Stunde. Multiple-Choice-Klausuren, da muss ich nicht viel nachdenken, sondern einfach nur korrigieren.«
»Und, wie haben sie abgeschnitten?«, fragte Stride.
»Es war schon mal besser«, sagte Andrea. »Die Konzentrationsfähigkeit lässt mit jedem Jahr weiter nach. Es wird immer schwieriger, sie noch für den Stoff zu interessieren.«
»Na ja, ich war auch nie besonders gut in Naturwissenschaften.«
»Tatsächlich? Ich hätte gedacht, als Polizist hat man Spaß an den ganzen gerichtsmedizinischen Details und daran, wissenschaftliche Erklärungen für irgendwelche Ungereimtheiten zu finden.« Während sie sprach, überflog Andrea eine Klausur und strich mit einem roten Stift die Fehler an.
»Für die wissenschaftlichen Analysen gibt es Labortechniker«, sagte Stride. »Ich widme mich hauptsächlich der Kunst der Erforschung des Möglichen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Andrea.
»Die meisten menschlichen Handlungen hinterlassen irgendwelche Spuren. Man muss sich von A nach B bewegen. Man muss etwas essen, man muss tanken, zur Toilette gehen, schlafen. Dabei hinterlässt man Hautschuppen, Haare, Fingerabdrücke, Körperflüssigkeiten – lauter Dinge, die sich finden lassen. Vorausgesetzt, man schafft es, vorher all die Spuren auszusortieren, die andere Leute hinterlassen haben, und die des Menschen zu identifizieren, nach dem man sucht.«
Andrea lächelte. »Auch wenn dir das nicht gefällt, Jon, für mich klingt das ganz nach einer wissenschaftlichen Vorgehensweise. Du hast bestimmt nicht die ganze Zeit im Unterricht geschlafen.«
»In deinem Unterricht hätte ich ganz sicher nicht geschlafen«, erwiderte er.
Sie errötete und senkte den Blick wieder auf ihre Klausuren. Eine Zeit lang schwiegen beide, und man hörte nur das Kratzen von Andreas Stift auf dem Papier und das leise Rascheln, wenn sie die Seiten umblätterte. Stride sah sich im Klassenzimmer um, aber schließlich blieb sein Blick an Andrea hängen, die mit gesenktem Kopf dasaß. Nervös strich sie sich mit den schmalen Fingern das blonde Haar aus der Stirn. Er bemerkte Lachfältchen wie kleine Halbmonde um ihren Mund. Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers
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