Unschuldig
Jungen«, antwortete Paula knapp.
»Und Sie glauben, es handelt sich um ein und denselben Täter?«
»Wir müssen davon ausgehen. Die Handschrift des Täters bei den drei Ermordeten und Verstümmelten ist dieselbe. Und die DNA des Entführers entspricht der des Mörders laut der Schirmmützen-Untersuchung in der PTU. Die Entführung passt zwar überhaupt nicht zu seiner Handschrift, aber auf Logik dürfen wir bei diesem Täter nicht bauen. Das Motiv bei den Morden mit den Verstümmelungen entspricht wahrscheinlich nicht dem Motiv für die Entführung. «
»Also ein Täter, aber zwei oder mehr Motive?«
»Ja, ich denke, wir müssen mehrgleisig denken.«
»Sie sollten bei der Frage ansetzen, warum er die Toten verstümmelt«, dozierte Bleibtreu. »Warum entfernt er die Augäpfel? Da sie bereits alle tot sind, macht er es offenbar nicht aus Angst, dass die Opfer ihn wiedererkennen könnten. Die Verstümmelung der Augen ist also rein symbolisch. Wahrscheinlich hasst er es, wie die Leute ihn sehen. Wahrscheinlich hasst er sich selbst. Vielleicht ist er missgebildet?«
»Vielleicht verstümmelt er die Toten aus Rache oder Schuld«, warf Paula ein. »Gibt es nicht in einem antiken Drama einen Helden, der aus peinigender Schuld sich selbst blendet?«
»Richtig«, der Professor nickte, »das kommt in ›Ödipus Rex‹ von Sophokles vor. Ein Klassiker.«
Tommi konnte sich eine vorlaute Bemerkung mal wieder nicht verkneifen: »Ah, das ist doch der vom Ödipuskomplex, der seinen Vater killt und dann die eigene Mutter vögelt. Nach so einem sollen wir suchen? Da haben wir einen echten Psycho an der Backe!«
Der Professor lächelte. »Na ja. Er hat eindeutig eine gestörte Beziehung zu Frauen.«
»Und zu Männern«, ergänzte Herbert.
»Und zu Kindern«, setzte Tommi einen drauf.
»Vielleicht ist er impotent?«, bemerkte Marius.
»Er kann alle möglichen psychotischen Störungen haben«, meinte Bleibtreu wieder, um Ernsthaftigkeit bemüht. »Vielleicht wurde er als Kind geschlagen oder missbraucht …«
Max fragte frech: »Wer nicht?«
Paula mischte sich absichtlich nicht in die Diskussion ein. In der angespannten Situation war es wichtig, dass jeder Dampf ablassen konnte, auch und gerade durch Übertreibungen und Mutmaßungen den Täter betreffend.
»Wahrscheinlich hat er ein schlechtes Verhältnis zu seiner Mutter«, führte der Professor aus. »Falls sie noch lebt. Er könnte verheiratet sein, und wenn ja, ist er sehr unterwürfig. Ich würde aber eher darauf tippen, dass er Single ist. Wahrscheinlich Einzelgänger. Keine Freunde, auch bei der Arbeit eher isoliert. Ungesellig. Aber das habe ich Ihnen ja bereits bei unserer ersten Besprechung erklärt.«
»Damit ich das richtig verstehe«, versuchte Herbert eine Zusammenfassung. »Wir suchen nach einem ungeselligen weißen männlichen Europäer zwischen fünfundzwanzig und fünfzig, der seine Mutter nicht mag und sich für die Augen von Frauen und Männern interessiert?«
»Wenn du das mit den Augen weglässt, hast du gerade eben jeden einzelnen von uns beschrieben«, feixte Tommi.
»Nein, ich bin über fünfzig«, widersprach Herbert.
Alle grinsten.
Nur der Professor verzog keine Miene. »Was haben Sie erwartet? Ein Foto und eine Adresse? Täterprofile zu erstellen ist keine Wissenschaft. Es ist eine psychologische, auf Verhaltensforschung gestützte Analyse, die eventuell hilft, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen.«
»Was ist mit einer pädophilen Vergangenheit? Sollen wir danach noch genauer suchen?«, wollte Max nun wieder ernsthaft wissen.
»Nein, der Optiker ist kein Pädophiler, da bin ich mir inzwischen ganz sicher«, erklärte Paula kopfschüttelnd. »Aber vielleicht suchen wir in einem zu engen Radius. Seht euch ungelöste Mordfälle auch anderswo an, die mit ähnlichen Verstümmelungen einhergehen. Es kann sein, dass er damit gerade erst jetzt angefangen hat. Oder aber er ist sozusagen nur auf der Durchreise …«
»Serientäter bevorzugen normalerweise Gebiete, in denen sie sich auskennen«, meldete sich Bleibtreu wieder zu Wort. »Zuerst fantasieren sie nur vage von den Taten, dann begehen sie sie in allen Einzelheiten im Kopf, schließlich in der Wirklichkeit, und danach wollen sie das Erlebnis wiederholen. Wie Sie wissen, sind die Täter häufig sogar unter den ersten Schaulustigen, die sich am Tatort versammeln, weil sie sehen wollen, wie die anderen reagieren. Sie genießen die Aufmerksamkeit. Manche geilen sich regelrecht daran
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