Unschuldig
wir müssen trotzdem aufs Schlimmste vorbereitet sein. So festgefahren in Ermittlungen war ich jedenfalls noch nie. Wir haben mittlerweile mehr als zweihundert Befragungen im Umfeld der Opfer durchgeführt, und trotz mehrerer Großeinsätze der Polizei gibt es noch immer keine Spur von Manuel. Wir haben nichts. Ich bin wirklich verzweifelt«, bekannte sie. »Der Gedanke an den Jungen macht mich verrückt. Sandras Gesicht ist ein einziger Vorwurf, dabei habe ich doch sowieso unbeschreibliche Schuldgefühle. « Ihr fiel die Situation ein, als sie Sandra umarmen wollte und die Schwester das schroff abgelehnt hatte. Du bist dazu da, mir Manuel wiederzubringen, wenn du schon nicht auf ihn aufpassen kannst.
»Natürlich hat Sandra schreckliche Angst um ihren Sohn. Er befindet sich schließlich mit großer Wahrscheinlichkeit in den Händen eines irren Mörders. Kein Wunder, wenn sie langsam anfängt durchzudrehen. Mir hat sie heute mit den Fäusten auf die Brust getrommelt und dabei geschrien, es sei ihr egal, ob Manuel noch lebt oder tot ist, sie wolle nur endlich Gewissheit. Aber versuch du bitte trotzdem, dir keine Vorwürfe zu machen«, fuhr Jonas fort. »Sie behindern dich nur in der Arbeit und bringen überhaupt nichts.«
Beide starrten sie einen Moment lang schweigend auf das Tischtuch. Der Wirt schien ihre bedrückte Stimmung nicht bemerkt zu haben, und winkte dem Kellner, der eine Runde Wodka servierte. Nichtsahnend kam er an ihren Tisch und legte Jonas eine Hand auf die Schulter. »Du hast dir ja wirklich eine tolle Frau geangelt. Gerda sagte damals immer, dass du niemals eine Frau bekommst, wenn du weiterhin so schüchtern bleibst. Sie hat sich richtig Sorgen um dich gemacht. Aber jetzt sieht man dir an, dass du die Richtige gefunden hast!«
Jonas grinste verlegen, und Paula drückte seinen Arm.
Ivan prostete den beiden zu: »Auf eure Liebe!«
»Und darauf, dass du auch wieder eine Frau findest«, erwiderte Jonas.
»Da sieht es bisher nicht so gut aus«, klagte Ivan und verzog das Gesicht. »Die Damen da«, er zeigte auf einen Tisch im hinteren Teil des Restaurants, »sind alle nur hinter meinem Geld her statt hinter meinem Körper! Leider.«
Alle lachten, und Jonas klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Paula trank den Wodka in kleinen Schlucken und spürte, wie sich eine wohlige Wärme in ihrem Innern ausbreitete. Erst jetzt fiel ihr auf, wie brechend voll das kleine Lokal inzwischen war und wie dicht gedrängt die Gäste saßen. Am liebsten wäre sie noch Stunden mit Jonas in dem stimmungsvollen Ambiente geblieben. Aber es war schon spät. Morgen wartete wieder ein langer, anstrengender Tag auf sie mit vielen Stunden Arbeit voller Bangen um Manuel. Wenn nicht noch Schlimmeres.
»Macht’s gut«, sagte Ivan, als Jonas und sie sich schließlich verabschiedeten, »und kommt bald mal wieder. Für euch habe ich immer einen Tisch frei.«
Beim Zahlen hatte der Kellner darauf bestanden, nur das Essen zu berechnen. »Alle Getränke gehen aufs Haus«, meinte er und bedankte sich herzlich für Jonas’ fürstliches Trinkgeld.
Dann gingen sie Hand in Hand zum Wagen, der ein paar Blocks weiter in der Westfälischen Straße geparkt war. »Was gibst du ihr eigentlich?«, fragte Paula.
Jonas verstand sofort, was sie meinte. «Ich hab ihre Valium-Dosis für die Nacht hochgesetzt«, sagte er. »Deshalb läuft sie morgens auch noch wie in Trance durch die Gegend.«
»Das heißt, sie wird schon schlafen, wenn wir jetzt nach Hause kommen«, sagte Paula und schämte sich sofort, dass sie so erleichtert klang.
Doch Jonas schien das nicht zu bemerken. »Nur, wenn sie es auch wirklich eingenommen hat«, meinte er trocken und blieb vor ihr stehen. »Haben wir noch viele solcher Abende vor uns?«
Paula sah ihn an.
»Oder ist diese Frage zu naiv?«, setzte er nach.
Sie küsste ihn. »Nein, das ist nicht naiv, das ist sehr schön. Wir werden noch viele schöne Abende zusammen genießen.«
Er legte den Arm um sie und zog sie enger an sich.
Paulas Handy gab einen Summton von sich, mit dem es eine neue Nachricht anzeigte. Sofort machte sie sich von ihm los. »Ich höre nur die Mailbox schnell ab. Vielleicht ist es etwas Dringendes. «
Er wartete: »Wer ist es?«
»Die Bereitschaft.«
Sie wussten beide, dass um diese Uhrzeit niemals gute Nachrichten kamen, ganz gleich von wem.
»Bitte melden Sie sich, Frau Zeisberg. Ein zirka sechsjähriger Junge mit blondem Haar wurde ertrunken aufgefunden. Rufen Sie uns an, sobald
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