Unschuldig
kein Berliner Schwulentreff, den sie nicht mit dem Foto von Felix Kleist aufgesucht hätten. Alle Bewohner in der Nähe der Sybelstraße waren nach Manuel befragt worden. Die halbe Stadt hatten sie auf den Kopf gestellt, aber Stunde um Stunde und Tag um Tag verstrich ergebnislos. Nichts.
Tommis Scherzfrequenz ging gegen null, er machte ein bekümmertes, todernstes Gesicht, und Ulla verlor jede Lust, Kuchen oder andere aufmunternde Süßigkeiten zu servieren. Marius starrte wie hypnotisierend das Telefon an, als könnte er auf die Art eine gute Nachricht heraufbeschwören. Aber die blieb den ganzen Tag aus. Und den nächsten auch. Alle waren bereit, an Kommissar Zufall zu glauben wie an den Weihnachtsmann. Aber es gab keine Bescherung.
Sie standen mit dem Gesicht zur Wand. In der Sackgasse. Bei den Besprechungen hatte Paula das unangenehme Déjà-vu, als würden dieselben Argumente, Fakten und Indizien wiedergekäut, als würde sich immer alles im Kreis drehen.
Dazu kam der Druck von außen, als hätte nicht ohnehin jeder einzelne von ihnen die Motivation, den Optiker zu fassen. Mehrmals am Tag meldete sich Inspektionsleiter Fischer bei Paula, um nachzufragen, ob es etwas Neues gäbe. Das hieß im Klartext: »Was, noch immer keine Erfolgsmeldung?« Einmal am Tag rief sogar der Direx an: Habe er den Inspektionsleiter richtig verstanden und es gäbe keine Ermittlungsfortschritte? Was solle er dem Polizeipräsidenten mitteilen? Das wurde stets mit der Zurückhaltung guter Erziehung formuliert, konnte aber trotzdem nicht von dem drängenden Ton ablenken.
Und dazwischen die zahlreichen Anrufe der Journalisten. Die meisten fertigte Ulla ab, freundlich, aber entschlossen. Ein paar wenige Privilegierte kamen zu Paula durch. Entweder, weil sie die Reporter schon länger persönlich kannte, ihre Art der Berichterstattung guthieß, oder weil das jeweilige Medium dem Polizeipräsidenten besonders wichtig war. Nach drei Tagen in der Sackgasse setzte dann die Titelzeile der größten Berliner Zeitung der Ratlosigkeit des Teams ein sarkastisches Denkmal: »Der Optiker mordet weiter – und die Polizei ist blind!«
»Gehen wir noch einmal die letzten Fakten durch«, versuchte Tommi es mit etwas Aufmunterung. »Vielleicht haben wir etwas übersehen.«
»Klar, kein Problem«, erwiderte Paula und räusperte sich irritiert, denn sie glaubte, ihre Stimme klinge wie die von Sandra. Sie lächelte inzwischen wie ihre Schwester nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und blickte in die Runde. Aber die Kollegen schienen keine Veränderung an ihr zu bemerken.
Am Ende der Besprechung, bei der so gut wie nichts herausgekommen war, fragte Paula Tommi, ob er sie morgen Vormittag begleiten wolle. Sie hatte vor, noch einmal alle Wege abzugehen, die sie mit Manuel vor seinem Verschwinden gegangen war.
»Klar doch«, erwiderte Tommi. Er schien erleichtert, eine Weile hinauszukönnen. Schreibtischarbeit war nicht so sein Ding. Aber noch immer war er der Meinung, den besten Beruf der Welt auszuüben.
Paula war davon nicht mehr so überzeugt.
46
N achdem Paula zusammen mit Tommi am folgenden Tag alle Wege in Charlottenburg noch einmal abgegangen war, die sie irgendwann einmal mit Manuel zurückgelegt hatte – und die stundenlange Arbeit ohne Ergebnis geblieben war –, musste sie sich eingestehen, dass sie mit ihren Ideen am Ende war. Der Entführer saß irgendwo mit dem Jungen in einem Unterschlupf und bewegte sich offenbar nicht heraus. Auch aus der Bevölkerung gab es keinerlei Hinweise, die sie irgendwie weiterbrachten. Es war, als drehte sich alles im Leerlauf. Vielleicht war es Angst, die Paula einen klaren Blick verwehrte, vielleicht auch Erschöpfung und Müdigkeit. Sie wachte in der Nacht mehrmals auf und hatte Probleme, wieder einzuschlafen. Selbst der starke Kaffee von Ulla half nichts mehr, er schien sie im Gegenteil sogar noch müder zu machen.
Paula hatte Professor Bleibtreu nochmals zur Teambesprechung dazugebeten. Freundlich begrüßte er sie und schüttelte ihr lange die Hand. »Es war wie Gedankenübertragung. Ich wollte Sie gestern schon anrufen. Vielleicht kann ich helfen, den Schwachpunkt Ihres Gegners zu finden, denn er muss einen haben. Jeder Mensch hat einen.«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar, Professor. Wir sind wirklich mit unserem Latein am Ende.«
»Lassen Sie mal hören, was Sie bislang haben.«
»Drei Ermordete ohne Augäpfel – das wissen Sie bereits. Und jetzt noch einen entführten kleinen
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