Unschuldig
und Fernsehakademie fuhr, spürte sie deutlich ihre Nervosität. Frau Wenzel im Sekretariat begrüßte sie herzlich: »Ich habe Sie neulich im Fernsehen gesehen«, sagte sie.
Paula bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Eigentlich war ihr diese Art von Bekanntheit zuwider, aber sie hatte gelernt, dass es in manchen Situationen auch überaus hilfreich sein konnte.
»Herr Direktor Staufer erwartet Sie. Er möchte Ihnen den Film gern selbst übergeben.« Sie führte sie zum Büro des Direktors und hielt ihr die Tür auf.
Hinter einem großen Schreibtisch saß ein kräftiger Mann im grauen Anzug, unter dem er ein Jeanshemd trug. Bis auf einen schmalen grauen Haarkranz war er kahl, und seine hellen Augen betrachteten Paula freundlich durch die Gläser einer dunklen Hornbrille. Lächelnd erhob er sich und reichte ihr die Hand. Vor ihm lag eine Filmrolle. »Frau Wenzel hat mir alles erklärt. Wir haben von dem Abschlussfilm leider keine weitere VHS. Dies ist das einzige Exemplar, das noch existiert. Wenn Sie eine Kopie benötigen, lass ich Ihnen gerne eine ziehen.«
»Das ist sehr liebenswürdig, Herr Staufer, aber könnte ich ihn mir doch vielleicht erst einmal hier anschauen?«
»Sicher, das ist kein Problem. Ich begleite Sie in den Vorführraum, da können Sie ihn sich auf der Leinwand in Ruhe ansehen.«
»Vielen Dank.«
»Ich geh mal eben vor«, sagte Staufer, und Paula folgte ihm. »Der Vorführraum befindet sich nämlich unten.« Er öffnete für Paula eine Schwingtür vom Flur ins Treppenhaus.
Während sie gemeinsam die Treppe hinuntergingen, sagte Staufer: »Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Film wegen des traurigen Unfalls, den es dabei gab.«
»Ein Unfall?«
»Ja, leider. Ein kleiner Junge kam bei dem Dreh ums Leben. Die letzte Aufnahme in dem Film. Sie werden es gleich sehen, zeigt ein Kind in einem brennenden Boot. Eine wirklich tragische Geschichte. «
Bei Paula sprangen alle Alarmlampen an. »Was genau ist passiert? «
Staufer legte die VHS ein. »Sehen Sie sich den Film an. Am Ende kam der kleine Komparse in einem brennenden Boot auf dem See zu Tode. Furchtbar.«
Paulas Herz hämmerte. »Ist der Unfall denn in dem Film zu sehen?«
»Ja, achten Sie auf die letzten Einstellungen.« Staufer ließ sie allein.
Als auf der Leinwand der Titel »Todesrituale« flimmerte, registrierte Paula, dass sie noch niemals zuvor mit so großer Spannung einen Film erwartet hatte. Vor den ersten Bildern war in weißen Buchstaben auf schwarzer Leinwand in einem Einzeltitel zu lesen: Für F. Dann begann der Film, der im Wesentlichen in chronologischer Abfolge und einfacher Erzählweise nicht-christliche Bestattungsriten zeigte: ägyptische, muslimische, tibetische und isländische Rituale, unterlegt mit Texten einer Männerstimme, die Paula als die Stimme von Felix Kleist zu erkennen meinte, und verschiedenen musikalischen Einspielungen, auch Totenklageliedern. Die düster gehaltenen Schwarz-Weiß-Bilder, die in einem langsamen, fast feierlichen Schnitt einander abwechselten, unterstrichen die Schwere und Ernsthaftigkeit des Themas.
Gegen Ende des Kurzfilms, der etwa zwanzig Minuten dauerte, wurde ein in Leintücher eingewickeltes Kind gezeigt, das Kapuzenmänner für seine letzte Fahrt in ein Holzboot legten. Sakrale Musik lag unter der Szene, die von der Feuerbestattung der Wikinger erzählte. Nach einer Nahaufnahme des zarten kleinen Kindergesichts mit den geschlossenen Augen schwenkte die Kamera auf ein in Flammen stehendes Boot, das mit dem Kind in der Dämmerung auf einem See schaukelnd im diesigen Licht ins Nirgendwo verschwand.
Im Abspann las Paula eine Reihe von Mitwirkenden des Films, unter anderem: Felix Kleist als Schauspieler und Claudia Borowski als Aufnahmeleiterin. Als Produzentin wurde Lea Gruenbaum genannt, und darunter stand: »Eine Produktion der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin.« Und: »Buch, Regie und Kamera: Tim Möller.«
Wie betäubt saß Paula in dem dunklen Kinosaal und hielt sich die Fakten vor Augen: An dem Film waren mehrere Menschen beteiligt, von denen vier nicht mehr lebten: der kleine Junge, Lea Gruenbaum, verheiratete Buckow, Felix Kleist und Claudia Borowski. Diese vier waren auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen. Jedenfalls waren drei der Opfer von ein und demselben Täter umgebracht worden. Der Einzige, der bisher verschont geblieben war, war Tim Möller.
Wenn es dem Täter um die Beteiligten an Möllers Abschlussfilm ging, dann hatte er drei von
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