Unschuldig
Er kochte einen Kaffee und tunkte die Schokokekse hinein, die er sich von zu Hause mitbrachte.
Am liebsten trug er weiße T-Shirts und schwarze Jeans, frisch gewaschen und gebügelt. Letzte Woche hatte er einen Carhartt-Laden in Mitte aufgesucht und sein letztes Geld für ein graues Kapuzensweatshirt mit Reißverschluss, bequeme grüne Sneakers und neue Jeans ausgegeben. Als er sich im Spiegel betrachtete, versuchte er krampfhaft, darin jenen Hauch von Coolness zu entdecken, den er an einigen Kollegen aus den Filmteams so bewunderte. Aber er sah nur einen asketisch wirkenden Dreißigjährigen, der wie ein gelangweilter Neunzehnjähriger aussehen wollte und in dessen Kopf Gespenster spukten. Er rief sich zur Ordnung und betrachtete seine freundlichen braunen Augen und die perfekten weißen Zähne. Sein halblanges braunes Haar mit den blonden Strähnen trug er manchmal zu einem Zopf gebunden. Er wusste, dass einige aus dem Team ihn für schwul hielten.
In der Firma war er der wichtigste Mann, oder wenigstens gleich darunter. Er war unersetzlich. Je nach Wochentag musste er den Speiseplan schreiben, Frühstückshäppchen bereiten, Gemüse schnippeln. Wenn wieder mal der eine oder andere Kollege fehlte, verteilte er auch die Desserts und das Salatdressing, stellte das Frühstück auf und räumte die Lieferung in die kleinen Container. Seine eigene Frühstückspause, die sonst immer nach der des Filmteams war, also erst gegen halb elf, fiel dann meistens aus.
Danach wurde es höchste Zeit für die Vorbereitung des Mittagessens. Er delegierte die kleineren Aufgaben wie Brot schneiden, Beilagen abfüllen, Servietten und Bestecke kontrollieren an die Ein-Euro-Aushilfe. Ab 12.30 oder spätestens 13.30 Uhr – je nach Dispo – musste das Mittagessen fertig sein.
Seine Tätigkeiten waren vielseitig und beanspruchten ihn in hohem Maße. Aber er hatte ausreichend Geduld, Geschick und Durchhaltevermögen. Außerdem war er mit seiner unauffällig sympathischen Art beim Team beliebt. Sein Chef, der sich hauptsächlich um die Einkäufe, die Lagerhaltung und die Abrechnungen kümmerte, mochte ihn auch und steckte ihm hin und wieder einen fetten Bonus aus der Trinkgeldbox zu.
Am Abend kontrollierte er jeden Sitzplatz und die komplette Küche. Jede halb gefüllte Zigarettenschachtel, jeden vergessenen Kugelschreiber und alles, was sonst noch so liegen blieb, gab er am nächsten Morgen der Aufnahmeleiterin oder einem Assistenten. Er hatte das Gefühl, gute Arbeit zu leisten und an einem besonderen Ort arbeiten zu dürfen.
Natürlich hatte er sich sein Leben nicht so vorgestellt. Aber wenn er sich zu erinnern versuchte, welche Pläne er als kleiner Junge oder später als Schüler hatte, stellten sich überhaupt keine Bilder ein. Wollte er einmal Arzt werden oder Kapitän? Hatte er sich eine eigene Familie gewünscht? Seit dem Ereignis gab es keine Vision mehr, in welche Richtung sein Leben verlaufen sollte. Er lebte nur noch von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. An bewusste Entscheidungen konnte er sich ebenso wenig erinnern wie an irgendwelche Pläne. Eigentlich hatte er sich seit damals nur in Warteposition befunden. Seit zehn Jahren hatte er gewartet auf den richtigen Tag. Auf heute.
Während er die frische Petersilie zupfte, dachte er an die Dinge, die sein kleiner Bruder Fabian und er besonders geliebt hatten: spät zu Bett gehen und lange schlafen, den Berliner Zoo, eine Kissenschlacht, Klingelmäuschen spielen, Apfelpfannkuchen mit Puderzucker, Filme zusammen gucken, Boot fahren auf dem Wannsee. Und am liebsten jeden Tag Pizza. Obwohl Fabian tot war, buk er noch immer fast jeden Tag eine Pizza. Sein Pizzabacken war für ihn wie ein Gottesdienst, den er dem Bruder leistete. Er hatte schon Tausende von Pizzen gemacht, mittlerweile die meisten davon für die Leute vom Film.
Er hatte herausgefunden, dass Pizza das perfekte Nahrungsmittel für jede Gelegenheit und jeden Tag war. Ein Hefebrot mit was drauf. Ein einfacher Fladen auf einem Stein gebacken, der vom Holzfeuer erhitzt wird. Man verknetet Mehl, Wasser, Hefe und Salz zu einem Teig, der dann ein bisschen Zeit zum Gehen braucht. Danach den Teig zu einem Fladen klopfen und ziehen und im Holzofen backen. Das Wichtigste an einer Pizza war die Kruste. Nein, der Belag!, hörte er Fabian rufen. Er lauschte dem Klang seiner Stimme, und schon kam der Schmerz. Er versuchte ihn abzuschütteln und wieder an die Pizza zu denken. Seiner Meinung nach war der Belag sekundär. Nur die
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