Unschuldig
Kleinigkeit, natürlich mit Uhrzeiten. Wer mich gesehen hat, wer was bezeugen kann und ob es ein denkbares Motiv für mich gäbe.« Er grinste sie an.
Paula fühlte sich völlig überrumpelt. Sie fragte sich, was Kleist mit diesem Angebot bezweckte. Oder machte er sich nur lustig über sie?
»Einverstanden?«, fragte er, immer noch grinsend.
Sie erhob sich. »Ja, danke. Bringen Sie mir Ihren schriftlichen Bericht dann bitte morgen Vormittag in den Wohnwagen.«
Der Schauspieler sah sie verschwörerisch an. »Wissen Sie, Frau Kommissarin, fast jeder von uns hat irgendwann einmal einen Mord begangen. Nicht nur in Gedanken. Sondern in seiner Rolle. Sehen Sie, böse Menschen sind die dankbarsten Rollen. Kriminelle, Mörder, Psychopathen: herrlich! Humphrey Bogart hat die ersten Jahrzehnte seiner Karriere als sogenannter Heavy absolviert, als Gangster. Und dann bekam er seine Chance: Er spielte einen hartgesottenen Privatdetektiv. Auch nicht gerade die Sympathierolle. Aber sie war das Sprungbrett zu seinen Heldenrollen. Casablanca und den Rest kennen Sie vermutlich. Und er bekam die damals schönste Frau Hollywoods dazu, Lauren Bacall.«
»Danke für den Exkurs in die Filmgeschichte«, sagte Paula amüsiert. »Und wie sind Sie zum Film gekommen?«
»Ich bin vom Theater weg, weil ich das Lampenfieber nicht mehr aushielt.« Er fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Je älter ich werde, desto mehr Panik habe ich aber auch vor dem Filmemachen. Früher habe ich die Kamera geliebt – und sie mich. Jetzt fürchte ich die Kamera, und sie scheint das zu merken. Von Film zu Film werde ich unansehnlicher.« Er machte eine Pause, als erwarte er Paulas Protest. Aber sie sagte nichts. »Nun, solange der wahre Feind, der Zuschauer, das so nicht sieht und die Gage stimmt, mache ich weiter. Aber jedes Mal fürchte ich die Dreharbeiten. Und erst die Leute auf dem Set.«
Paula wandte sich zum Gehen.
»Ich habe überhaupt Angst vor fremden Leuten, verstehen Sie. Ich fürchte, dass ich hänge und den Text nicht mehr weiß.«
Paula nickte vage. Der Kerl war offensichtlich auf einem Aufmerksamkeitstrip, und sie sollte mitspielen. Exzentrische Exhibitionisten und Dauerredner wie er gingen ihr furchtbar auf die Nerven, aber das wollte sie ihm nicht zeigen.
Sie nickte ihm zu, verließ den Wohnwagen und marschierte in Richtung Duisburger Straße zum Olivaer Platz und über die Xantener zurück zum Ku’damm. In der frischen Luft ging es ihr gleich besser, und trotz der leichten Brise streckte sie sich wohlig in der Frühjahrssonne. Sie atmete ein paarmal tief ein und sah sich mit neu erwachten Lebensgeistern aufmerksam nach dem nächsten Gesprächspartner auf ihrer Liste um.
5
A ls Paula zurückkam, saß bereits ein dicklicher Mann im blauen Nadelstreifenanzug auf der Treppe ihres Wohnwagens.
»Hallo«, sagte er. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich noch mal kurz meine Rolle durchgehe. Ich werde mich auch sicher beeilen. «
»Machen Sie nur. Sie stören mich überhaupt nicht.« Sie wartete auf die Hauptdarstellerin, die in wenigen Minuten zur Befragung kommen sollte.
Der Mann murmelte etwas vor sich hin, schloss die Augen und bewegte die Lippen lautlos weiter. Unschlüssig blieb sie vor ihm stehen.
»Sie sind die Kommissarin?«, unterbrach er plötzlich seinen stummen Text.
»Ja.«
»Ermitteln Sie nur in Mordfällen?«
»Ja.«
»Das stelle ich mir nicht einfach vor.«
»Das ist es auch nicht.«
»Wie lange brauchen Sie denn so im Durchschnitt, um einen Mordfall aufzuklären? Also ich meine natürlich, um diesen Fall hier aufzuklären?«
Paula stöhnte innerlich auf. »Kommt ganz drauf an. Haben Sie viel Text zu lernen?«, fragte sie.
»Jede Menge. Aber mich würde eines mal interessieren: Glauben Sie, dass es einer vom Team war?«
»Das Glauben habe ich mir abgewöhnt.«
»Aber warum reißt ein Mann einer Frau die Augen raus?«
»Woher wissen Sie, dass es ein Mann war?«
»Na, die Mörder sind doch meistens Männer.«
Paula lachte. »Das stimmt. Aber noch kennen wir das Geschlecht dieses Täters nicht.«
»Also ich tippe mal auf einen Mann. Wahrscheinlich ein Serienkiller. «
»Von wem haben Sie das mit den Augen?«
»Weiß doch jeder hier. Diese Sache ist schon merkwürdig. Ich habe mal einen Krimi gelesen, von einem Skandinavier. Da ging es nur um Augen, richtig eklig war das. Vielleicht hat sie etwas gesehen, das sie nicht sehen durfte?«
»Das ist die Tausend-Euro-Frage«, sagte Paula spöttisch und
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