Unschuldig
den Papierkorb und stürmte aus dem Wagen. Mit einem lauten Knall warf er die Tür hinter sich zu.
Paula holte eine Plastiktüte aus ihrer Tasche, fischte die Dose wieder heraus und steckte sie ein.
Tommi klopfte an den Wohnwagen, er hatte sensationelle Neuigkeiten: Das Alibi von Sascha Buckow war geplatzt, weil seine Assistentin Anna Leifheit zu Protokoll gegeben hatte, er habe um acht Uhr das Hotel verlassen und sei erst um kurz vor eins zurückgekommen. Sie habe bis dahin im Zimmer auf ihn gewartet und ferngesehen.
»Gut, dann laden wir ihn vor aufs Präsidium.« Paula ging das Gespräch mit dem Regisseur noch immer durch den Kopf. »Und hier habe ich eine Coladose von Tim Möller. Die PTU soll den Speichel mit den DNA-Spuren abgleichen, die an der Toten und am Tatort gefunden wurden. Bitte informier auch Dr. Weber darüber.«
»Wird sofort gemacht.« Tommi salutierte grinsend. Er strotzte nur so vor Tatendrang.
»Ich würde gern meine beiden Gäste in der Mittagspause treffen. Wir sehen uns dann am frühen Nachmittag im Büro.«
»Aye, aye, Sir.«
11
A ls Paula Sandra und Manuel zum Lunch abholte, wurde ihr plötzlich bewusst, wie nahe der Zufall diesmal ihre Wohnung und Arbeitsstätte zusammengerückt hatte. In unmittelbarer Nähe des Tatortes zu leben war zwar bequem, aber doch gleichzeitig irgendwie befremdlich.
Sandra und Manuel hatten bereits eine von Jonas’ eingefrorenen Hühnersuppen aufgetaut und gegessen. Nun wollte Manuel unbedingt ein Eis. Also setzten sie sich im Eissalon Graffiti auf dem Adenauerplatz an einen der Tische draußen. Sandra und Manuel bestellten zwei große Schokobecher, Paula wählte einen Espresso und ein Stück Käsekuchen. Genüsslich und schweigsam machten sie sich über die Süßigkeiten her und streckten ihre Gesichter in die wärmende Mittagssonne.
Am Nebentisch saß eine überfordert wirkende Mutter mit ihren beiden herumzappelnden Töchtern. Die Kleine war etwa in Manuels Alter, die Große vielleicht drei Jahre älter.
Paula dachte an früher, als sie manchmal mit Sandra und ihrer Mutter in der Konditorei Süßes Eck gewesen war, denn einen italienischen Eissalon gab es nicht im Dorf. Die Mutter hatte meistens Erdbeerkuchen für alle bestellt, dazu für sich ein Kännchen Kaffee und Eisschokolade für die Mädchen. Paula galt immer als die vernünftige und ernste Ältere, Sandra dagegen blieb die einfallsreiche, lebenslustige und unberechenbare Kleine. Erst nach der Geburt von Manuel wurde Sandra »weniger verrückt«, wie die Mutter es ausdrückte, aber Paula fühlte sich noch immer verantwortlich für die kleine Schwester. Als damals in der sechsten Klasse ein älterer Junge Vergnügen daran fand, sich an die Kleine heranzuschleichen, um mit den Fingern schmerzhaft an ihr Ohr zu schnippen, hatte sich Sandra bei ihr beklagt. Paula folgte dem Übeltäter, als er aus dem Schulbus ausstieg, und sprang ihn von hinten an. Aber der Junge war ein Jahr älter als sie, gut fünfzehn Kilo schwerer und prügelte sie windelweich, bevor es dem Busfahrer gelang, die beiden Kampfhähne zu trennen.
Am Nebentisch holte die Mutter einen Fotoapparat aus der Handtasche und forderte die Töchter auf, sich die Schokolade aus den Mundwinkeln zu wischen und sich »ordentlich« an den Tisch zu setzen. Die Mädchen kamen der Bitte allerdings nicht nach, sondern kicherten und alberten weiter.
Paula dachte an ihre Mutter, wie sie ihr mit einer kleinen Drahtbürste aus ihrer Handtasche schmerzhaft ziepend die langen Haare gebürstet hatte, sobald eine Kamera in der Nähe war. Und wie sie zu Paula gesagt hatte, wie viel besser sie aussehen könnte, wenn sie sich nur halb so viel Mühe geben würde wie Sandra.
»Eins ist klar«, sagte die Mutter nun genervt in das Kreischen und Gelächter der Mädchen hinein. »Wenn ihr euch nicht benehmen könnt, ist der Spaß vorbei. Und zwar sofort!«
Betreten schauten die Mädchen auf den Boden.
Die Obdachlose hatte Paula entdeckt und kam zu ihrem Tisch. Mit heiserer Stimme trug sie ein Weihnachtsgedicht vor. Und das mitten im Frühling. Paula musste grinsen, aber Manuel blickte unsicher zu seiner Mutter.
Die Frau streckte ihre schmutzige Hand aus und kassierte ein paar Euro.
»Dit is Berlin, wa«, sagte die Frau am Nebentisch.
»Kommt, gehen wir noch auf ein halbes Stündchen auf den Spielplatz in der Mommsen.« Paula winkte der Kellnerin.
Manuel war begeistert und wollte sofort los.
Immer hatte er das getan, was die anderen von ihm
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