Unschuldig
unsichtbar mit seiner schwarzen Kopfbedeckung und begutachtete die Auslagen der Kunst- und Schmuckgeschäfte, Reisebüros und der Antiquitätenläden in der Leibnizstraße Richtung Mommsen. Langsam schlenderte er weiter.
Der vergangene Winter war der längste Winter seines Lebens gewesen. Im Februar hatte er das Gefühl gehabt, ein halbes Jahr in der Arktis hinter sich zu haben.
Immer wieder hatte er sich den Weltatlas vorgenommen, afrikanische Länder gesucht und im Anhang die Informationen über deren Klima und Besonderheiten nachgelesen. Schließlich war er die Strecke von New York nach Europa mit dem Finger abgefahren. New York lag auf der Höhe von Sizilien, und Berlin war, wenn man weiter nach Osten ging, auf dem gleichen Breitengrad wie das westsibirische Tiefland.
Vor wenigen Tagen waren Schnee und Eis endlich geschmolzen, und plötzlich war es frühlingshaft warm geworden. Man konnte schon die ersten Weidenkätzchen blühen sehen. Er setzte seine Sonnenbrille auf, ging über die Wilmersdorfer in Richtung Norden und drehte wieder um.
Die Stadtverwaltung hatte auf den Kinderspielplätzen den Sand in den Sandkästen erneuern lassen. Auf dem Spielplatz in der Mommsenstraße tummelte sich eine vergnügte Kinderschar. «Zwergenspaß für alle« lud ein buntes Schild am Eingang ein. Zahlreiche Mütter und einige wenige Väter saßen auf blauen Bänken, genossen die wärmende Mittagssonne und beobachteten die Kleinen beim Toben in der Ritterburg und auf den Klettergerüsten.
Langsam ging er näher und blieb dann abrupt stehen. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Er konnte nicht fassen, wen er da auf dem Spielplatz sah: Ein kleiner Junge, etwa sechs, sieben Jahre alt und Fabian wie aus dem Gesicht geschnitten! Er spielte im Sandkasten. Das konnte doch nicht wahr sein! Fabian! Er wollte sofort zu ihm hinlaufen. Aber das ist ja völlig ausgeschlossen, sagte er sich. Einfach unmöglich. Das ist nur meine Fantasie, die mit mir durchgeht. Das kann ja gar nicht sein!
Schließlich setzte er sich auf eine Bank am Rand des Spielplatzes. Ein junger Mann in einer dicken Daunenjacke mit einem Buch auf den Knien saß schon da und grüßte ihn, als würden sie sich kennen. Er wollte kein Aufhebens machen unter all den Müttern und Vätern, grüßte zurück und setzte sich still neben ihn. Unauffällig beobachtete er die Kinder im Sandkasten und schaute sich ein paarmal in Richtung Eingang um, als warte er auf jemanden.
Der Kleine, der Fabian so ähnlich war, schien sich mit einem Jungen anzufreunden, der wie er einen Lockenkopf hatte, nur ganz in Schwarz. Völlig selbstvergessen spielten die beiden gemeinsam in einer Ecke des Sandkastens und bauten eifrig an einer Burg.
Dann trat eine Frau zu den Kindern, wahrscheinlich die Mutter des blonden Jungen, und strich dem Kleinen über die Locken. Der Junge zeigte lachend auf seinen neuen Freund, die bunten Schaufeln und Eimerchen. Schon bald würden ihre Jacken, Hosen und Schuhe voller Sand sein. Die Frau teilte Obst aus einer Plastikdose zwischen den beiden Kindern auf und reichte dem Jungen, der aussah wie Fabian, ein Taschentuch. Er putzte sich die Nase und drückte dann der Frau das zusammengeknüllte Taschentuch wieder in die Hand.
Sie kehrte zu ihrer Bank zurück. Neben ihr saß eine zweite Frau, mit der sie sich angeregt unterhielt. Die kenne ich doch auch, dachte er und sah genauer hin. Die beiden sahen sich auffallend ähnlich, sicher Schwestern. Er hatte die andere Frau erst am Vormittag auf dem Filmset gesehen. Was hat die Kommissarin hier verloren? Ist das vielleicht ihr Sohn dort in dem Sandkasten? Nein, die andere Frau musste die Mutter sein.
Er stand auf, verabschiedete sich von dem Mann in der Daunenjacke, und als er langsam an den beiden Frauen vorbeiging, hörte er, wie die Mutter sagte: »Er heißt Luca, ein kleiner Italiener. Süßer Junge. Und so schöne dunkle Augen. Ich bin richtig froh, denn Manuel schließt normalerweise nicht so schnell Freundschaften. «
Die Kommissarin fror offensichtlich, sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und verließ kurz darauf den Spielplatz.
Er beschloss, die Mutter und ihren kleinen Sohn weiter zu beobachten, und setzte sich ein Stück entfernt auf eine andere Bank.
Etwa eine Viertelstunde später, nachdem die Frau einen Blick in die mitgebrachte Zeitschrift geworfen hatte, ohne aber dabei ihr Kind aus den Augen zu lassen, machten sich beide ebenfalls auf den Weg, wahrscheinlich nach Hause.
Er folgte ihnen
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