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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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erwarteten. Zuerst hatte er die Schule beendet, dann den Führerschein gemacht und später mit dem Studium begonnen. Doch er konnte die Welt nicht mehr so sehen wie früher. Der Verlust seines Bruders hatte ihn hilflos zurückgelassen, und er bekämpfte diese Hilflosigkeit, indem er versuchte, die Tage mit Aktivitäten oder Schlaf auszufüllen.
    Erst viele Wochen nach Fabians Tod war der Schmerz langsam zu ihm durchgedrungen. An jenem Nachmittag vor über zehn Jahren war es schon fast dunkel gewesen, und in der Luft lag noch der Geruch von gebrannten Mandeln und Glühwein. Der Himmel war bewölkt, ein weißer Hintergrund für die toten Äste der kahlen Bäume und seine schwarze Trauer. Von jetzt an träumte er jede Nacht von verlorenen Dingen. Er hatte Menschen mit Schlafstörungen nie verstehen können und noch weniger die, die sich darüber beklagten, dass man ein Drittel seines Lebens verschläft. Gerade so, als sei Schlaf etwas Unangenehmes oder gar Unanständiges. Er liebte es, zu schlafen. Vor allem, wenn er traurig war. Er war fest davon überzeugt, dass die Seele im Schlaf aus dem Körper heraustrat und ein anderes Leben lebte. Hinter geschlossenen Augen konnte er Träume erzeugen, und die handelten immer von Fabian.
    Wenn es möglich war, legte er sich sofort hin, sobald er die Traurigkeit herannahen spürte. Immer und überall konnte er schlafen und Trost finden. Zu allen möglichen Tageszeiten. Er legte sich hin und klinkte sich einfach aus.
    Er dachte an Fabian, der gerade durch seine Abwesenheit allgegenwärtig war, der in seinen Träumen auftauchte und ihn jeden einzelnen Moment schattenhaft begleitete.
    Irgendwann fing er mit dem U-Bahnfahren an. Er hoffte, dadurch unauffällig in der Menge der »normalen Menschen« verschwinden zu können. Nachdem er monatelang kreuz und quer durch Berlin gefahren war, entschied er sich für seine Lieblingsstrecke, die U2 von Ruhleben bis Pankow. Die U-Bahn fuhr wegen der vielen Kurven maximal Tempo siebzig. Er erinnerte sich noch gut daran, dass es vor der Grenzöffnung nur bis zu diesem roten Strich unten am Potsdamer Platz ging, über den dann nur bestimmte Leute durften. Heute konnte man die lange West-Ost-Strecke ohne jede Grenze fahren.
    Er saß in einem Waggon mit bunt gekleideten und fröhlichen Jugendlichen. Sie unterhielten sich über die Mathearbeit, die sie am Tag zuvor, dem letzten Schultag vor den Osterferien, geschrieben hatten. Er wusste: Neun Neonröhren in jedem Waggon, wenn er nach oben schaute. Einfarbig graue oder grau-blau-rot gesprenkelte Plastikbezüge, wenn er nach unten schaute.
    An einer Haltestelle stieg ein Mann im eleganten Anzug ein, der von dem giftig keifenden Dackel einer alten Dame bedroht wurde. Der Mann fluchte, die Hundebesitzerin schaute angestrengt zur Seite, als ginge sie das alles nichts an, und schwieg. Das Tier bellte, die Jugendlichen lachten. Der elegante Mann stieg an der nächsten Station wieder aus.
    Manchmal fuhr er vier Stunden und länger mit der U2, immer dieselbe Strecke, hin und her. Ab und an überlegte er zu springen. Sprung, Klatsch – vorbei wäre es mit all seiner Traurigkeit. Neulich, als er von der Dunkelheit in seinem Innern total erschöpft war und ihm alles zu viel wurde, stellte er sich ganz dicht an die Bahnsteigkante. Er hörte den Zug herankommen und sah auf seine Schuhspitzen. Und dann tat er es doch nicht. Er sagte sich, das ist meine Angst vor der Leere, vor dem Nichts. Diese Leere ist vielleicht nur ein langer Schlaf oder die Ruhe vor einer Prüfung, die ich noch nicht bestehen kann. Erst, tröstete er sich, muss ich meine Angst überwinden. Erst muss ich meine Aufgaben erfüllen.
    Die U2 fuhr langsamer, das Geräusch wurde immer feiner. Ein Schleifen, auf das sich schrille Töne legten. Poltern und Zischen, dann einen Moment lang Ruhe. Die Türen öffneten sich.
    Mit einem eleganten Schwung stieg er aus, setzte seine schwarze Wollmütze auf, obwohl es schon warm und sonnig war, und streifte durch die Straßen von Charlottenburg. Im Kino Die Kurbel auf dem Meyerinckplatz gegenüber dem Irish Pub gab es noch keine Vorstellung, doch der Vorraum war bereits geöffnet. Er steckte ein aktuelles Kinoprogramm in seine Jackentasche und ging an den drei kleinen Cafés links auf dem Platz vorüber, die bereits Stühle und Tische auf den Bürgersteig gestellt hatten. Im Schaufenster des Tauchsportshops betrachtete er sich von beiden Seiten und zog dann die Mütze tiefer ins Gesicht. Er fühlte sich beinahe

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