Unschuldig
alten Mietskasernen. »Na, hier möchte ich nicht mal tot überm Zaun hängen«, sagte Tommi, als sie vor der Wohnung der Bauers standen und darauf warteten, dass ihnen geöffnet wurde. Sie hörten ein Schlurfen und Husten, dann versuchte jemand mühsam, den Schlüssel herumzudrehen. Schließlich öffnete sich die Tür, und sie standen einer enorm dicken Frau im Nachthemd gegenüber. Eine Zigarette hing ihr qualmend zwischen den Lippen, ihr Haar war ungekämmt. Sie hob fragend das Kinn und schaute sie aus geröteten Augen an.
Die Ermittler hielten ihr die Dienstausweise hin, und Paula sagte, sie hätten ein paar Fragen, ob sie hereinkommen könnten. Die Frau zögerte einen Moment, entschied sich dann aber wohl nachzugeben, drehte sich um und schlurfte zurück in die Wohnung. Paula und Tommi schlossen die Tür hinter sich und folgten ihr. Im Flur blieben sie stehen, aber die Frau war plötzlich verschwunden.
Die Wohnung roch streng nach Katzenpisse. Ein Geruch, der in Kombination mit dem kalten Zigarettenrauch eine Mischung ergab, die Paula Übelkeit verursachte. Eigentlich brauchte sie sofort ein Glas Wasser, aber in dieser Umgebung hätte sie nicht mal das angenommen. Tommi nickte in Richtung Wohnzimmer, aber im selben Moment fauchte etwas ganz fürchterlich. Als Paula nach unten blickte, sah sie eine rotbraune Katze, die in das Zimmer sprang und dort unter dem Sofa verschwand.
»Die scheinen nicht gerade zu den Frühaufstehern zu gehören«, raunte Tommi und räusperte sich.
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, hörten sie hinter sich eine Stimme.
Frau Bauer hatte sich in einen schmuddeligen Jogginganzug gezwängt. Die Ärmel der engen Jacke hatte sie hochgeschoben, und Paula konnte eine tätowierte Rose auf ihrem linken Unterarm erkennen.
»Wir möchten mit Ben sprechen. Ist er da?«, fragte Paula.
»Ben ist im Bad. Er kommt gleich«, sagte sie knapp. »Wollen Sie einen Nescafé?«
»Nein, danke«, sagten Paula und Tommi wie aus einem Mund.
Die Frau zwängte sich schwerfällig an einem niedrigen Couchtisch vorbei und ließ sich geräuschvoll in einen durchgesessenen Sessel fallen. »Worum geht’s?«, fragte sie und wippte unruhig mit dem linken Fuß.
»Wir wollen Ihrem Sohn nur ein paar Fragen stellen«, sagte Paula.
»Worum geht es da?«, wiederholte sie stur.
Das Rauschen der Dusche war bis ins Wohnzimmer zu hören. Nach einer Weile verstummte es. Jemand bewegte sich hinter der Milchglastür und hustete einige Male. Dann stand Ben Bauer schweigend im Wohnzimmer. Paula wusste bereits, dass er Ende zwanzig war, er sah jedoch jünger aus. Sein halblanges braunes Haar war noch feucht und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine Strähne fiel ihm über das Auge. Seine Kleidung hätte gut zu einem Klassenfoto aus den Siebzigerjahren gepasst: schwarzes Cordjackett, ungebügeltes Hemd, Röhrenjeans und spitze schwarze Schuhe. Irgendwie sieht er kindlich aus, beinahe naiv, dachte Paula. Seine ausdruckslosen hellgrauen Augen verstärkten diesen Eindruck noch. Sie stellte Tommi und sich selbst kurz vor und fragte dann direkt: »Wir würden gerne wissen, wo Sie sich gestern Abend aufgehalten haben.«
»Er war hier«, sagte die Mutter, noch ehe ihr Sohn den Mund öffnen konnte. Ben stand verlegen da und kratzte sich am Kopf. Die Hände der Frau zitterten leicht, als sie eine Zigarette aus einem geöffneten Päckchen schüttelte, das auf dem verkratzten Couchtisch lag. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Ben erstaunt, aber schon im nächsten Moment waren seine Augen wieder so ausdruckslos wie zuvor.
»Waren Sie zu Hause, Herr Bauer?«, fragte Paula.
Er nickte.
»Den ganzen Abend?«
»Ja«, antwortete die Mutter wieder an seiner Stelle.
Ein erneutes Nicken von Ben und ein genervter Blick in ihre Richtung.
»Ungewöhnlich, dass ein Mann in Ihrem Alter den Samstagabend zu Hause bei seiner Mutter verbringt«, sagte Tommi mit betont ruhiger Stimme.
Ben warf ihm zunächst einen verständnislosen Blick zu und schlug die Augen dann nieder.
»Er war aber hier«, behauptete die Mutter. In ihrem Tonfall lag etwas Trotziges.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Ben. »Hat es was mit Felix zu tun?«
»Felix Kleist wurde heute Morgen tot aufgefunden«, sagte Paula.
Die Mutter öffnete den Mund, stieß aber nur einen unverständlichen Laut aus.
Alle Blicke richteten sich auf Ben.
»Das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid«, stammelte er und ließ sich in den noch freien Sessel sinken. Frau
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