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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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sind ganz allein die meinen? Gemeinsame Schaltkreise komplizieren diese Frage und verwischen die Unterschiede, weil in dem Augenblick, da ich Sie etwas tun sehe, Ihre Handlungen zu den meinen werden. Sobald ich Ihren Schmerz sehe, empfinde ich ihn mit. Sind diese Handlungen und Schmerzen ganz allein die Ihren? Sind sie meine? Die Grenze zwischen Individuen wird durch die neuronale Aktivität dieser Systeme aufgeweicht. Ein wenig von Ihnen wird Ich, und ein wenig von mir wird Sie.
    Überall in diesem Buch habe ich zu zeigen versucht, wie sehr die gemeinsamen Schaltkreise jeden Aspekt unseres sozialen Lebens durchdringen, wie sehr sie Verstehen, Lernen und Sprache erleichtern. Mehr noch, wir haben gesehen, dass angesichts der Fähigkeit unseres Gehirns, Assoziationen durch hebbsche Prozesse zu lernen (»Was zusammen feuert, vernetzt sich«), gemeinsame Schaltkreise eine fast unvermeidliche Eigenschaft des menschlichen Gehirns zu sein scheinen. Wir sind in tiefster Seele und unausweichlich soziale Wesen. Unsere Gesellschaften, unsere Kultur, unser Wissen, unsere Technologie und unsere Sprache – alles, was uns zu Recht stolz sein lässt auf unser Menschsein, scheint eine logische Konsequenz dieser Gehirnarchitektur zu sein, die uns die Geistesverfassung anderer Menschen miterleben lässt.
    Durch die Verbindung von Spiegelneuronen und gemeinsamen Schaltkreisen mit der Moral können wir besser die innere Stimme vernehmen, die uns sagt, dass anderen zu schaden, schlecht ist. Die Annahme, Spiegelneuronen seien an sich gut oder schlecht, ist zu einfach. Unsere Entscheidung, eine Handlung auszuführen oder nicht, ist ein Balanceakt zwischen dem Nutzen, den uns diese Tat bringen wird, und den stellvertretenden Konsequenzen, die uns die gemeinsamen Schaltkreise erleben lassen. Wenn wir den Verletzten am Straßenrand erblicken, veranlassen uns stellvertretende Gefühle, ihm zu helfen, selbst wenn die Aussicht auf ruinierte Autositze in uns den Wunsch weckt, einfach weiterzufahren. In diesem Fall motivieren uns gemeinsame Schaltkreise, das »Richtige« zu tun – zu helfen. Ein Werbefachmann, der den Zigarettenkonsum steigert, indem er das stellvertretende Verlangen verstärkt durch den Anblick des Marlborough Man, der sich eine Zigarette anzündet, während er in den Sonnenuntergang reitet, verwendet die gemeinsamen Schaltkreise für eine nicht ganz so edle Sache. Affen, die sich ihrer gemeinsamen Schaltkreise bedienen, um das nächste Manöver ihrer Beute vorherzusehen, benutzen ihre Spiegelneuronen, um ein Lebewesen zu töten. Spiegelneuronen sind, wie alle Dinge in der Natur, weder gut noch schlecht.
    Die Entdeckung der Spiegelneuronen hat weitreichende Konsequenzen für unser Moralverständnis. Wir wissen heute, dass Empathie fest in unserem Gehirn verankert ist und dass sie die Grundlage unserer natürlichen Ethik und den Kern unserer ethischen Gesetze verkörpert. Im Bezugssystem der Evolution zeigt uns die Entdeckung der Spiegelneuronen, dass Fairness und Verwandtschaftsbeziehungen vermutlich das Ausmaß unserer Empathie beeinflussen. Insofern ist es verständlich, dass wir für den Burschen in unserer Nachbarschaft mehr Anteilnahme aufbringen als für Kinder im fernen Afrika. Im Hinblick auf unsere Biologie und unsere gemeinsamen Schaltkreise hat die Volksweisheit recht: Aus den Augen, aus dem Sinn.
    Manch einer mag denken, das gebe uns das Recht, auf Anteilnahme und Hilfe zu verzichten – das sei moralisch, weil es natürlich sei. Keineswegs. Was ist , kann niemals bestimmen, was sein soll . Die Evolution hat unsere Gehirne zu einer Zeit geprägt, als weit entfernte Menschen sich für erwiesene Gefallen nicht revanchieren konnten. Heute leben wir in einer Welt, in der eine Interkontinentalrakete alles menschliche Leben auf der anderen Seite des Globus in wenigen Stunden vernichten kann. Das Ziel der Neurowissenschaft kann nicht sein, uns zu sagen, was gut oder schlecht ist, sondern uns die Kräfte verständlich zu machen, die unsere moralischen Intuitionen und Empfindungen beeinflussen, und uns dadurch auf die Stärken und Schwächen aufmerksam zu machen, die zu fühlen wir geneigt sind. Durch Vergleich dieser Neigungen mit dem, was wir als geistige Wesen für gut oder schlecht halten, können wir entscheiden, welche Gesetze wirksam sind, weil sie sich an natürlichen Tendenzen orientieren, und welche es nicht sind. So lässt sich auch herausfinden, wo wir verstärkt durch Erziehung nachhelfen müssen.

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