Unser Mann in London
Arsenal-Jungs auf, die mit 18 aus ihren Gastfamilien ausziehen wollten, aber noch keine eigene Bleibe hatten. Daniel Karbassiyoon oder Michal Papadopulos fanden bei mir Unterschlupf. Nicht immer funktionierte das Zusammenleben reibungslos. Ich dachte, Anneke werde sich schon einen Schrank für ihre Kleider aussuchen, sie wartete darauf, dass ich ihr endlich einen Schrank anbot, und lebte wochenlang aus dem Koffer. Michal musste ich erklären, dass er in einer Wohnung mit einer Frau nicht den ganzen Tag in Unterhose herumlaufen könne. Aber Anneke sagte später einmal zu mir, die Zeit in der Maisonette am Ridgeway, als wir angehende Erwachsene mit geringer Lebenserfahrung und großen Träumen waren, sei eigentlich die schönste gewesen, und auch wenn ich das so nicht formulieren würde, verstehe ich doch sehr gut, was sie meint.
Wir lebten mit einer spürbaren Unbeschwertheit.
Wir machten uns Uncle-Ben’s-Reis zu fertiger Currysauce und glaubten, das nenne man Kochen. Wir saßen über dem Reiscurry lange Stunden zusammen. Ich fand Freude an der englischen Art, der verschlüsselten Sprache und höflichen Zurückhaltung. Als Arsenals Mädchen für alles, Paul Irvine, kam, um sich meine pochende Heizung anzusehen, bot ich ihm in klassischer englischer Höflichkeit an mitzuessen. Das heißt, ich war mir sicher, er würde ablehnen. «Ja, warum nicht?», sagte Paul.
Leider hatten wir nur genug für zwei gekocht. Also aßen Anneke und Paul zu Abend, und ich saß hungrig daneben und tat, als hätte ich keinen Hunger.
Bei Arsenal hatte ich meinen Spind nun in der Kabine der ersten Mannschaft. Im Ligapokal gegen den FC Sunderland durfte ich wieder einmal einige Minuten in der Premier-League-Elf spielen. Meine Rückennummer erzählte von meinen Fortschritten: Als Nummer 72 hatte ich 1999 begonnen, über 54 und Paarunddreißig war ich nun bei Nummer 29 angelangt, am Rande der ersten Mannschaft.
Auch in meinem neuen Zuhause wollte ich ein vorbildlicher Profi sein. Ich kaufte mir ein Buch,
Das Haushalts-Abc
. Darin erfuhr ich, wie man Hemden faltete, ohne dass sie zerknickten, wie man den Kühlschrank energiesparend einräumte und dass man bei hartnäckigen Flecken auf dem Hemd durchaus auch einmal mit Backpulver und Zitronensaft zu Werke gehen sollte. Ich machte mit Anneke Witze über das Buch. Aber selbstverständlich las ich es bis zur letzten Seite, ohne auch nur einen Ratschlag zu überspringen.
[zur Inhaltsübersicht]
Sieben Von Deutschen und Engländern
Mit sieben Jahren, zu Hause in Bürbach, war England für mich auch nichts anderes als die Tschechoslowakei oder die Vereinigten Arabischen Emirate gewesen. Ein beliebiger Gegner, den die deutsche Nationalelf auf ihrem Weg zum Weltmeisterschaftssieg 1990 bezwang. Zehn Jahre später saß ich mit meinem Bruder und einigen Freunden im Wembleystadion und konnte nicht mehr überhören, dass Fußballspiele zwischen England und Deutschland doch ein wenig anders waren als Partien gegen arabische Öldynastien. Die englischen Fans sangen Lieder über ihre großen Siege, die ungefähr um 1943 stattgefunden haben mussten.
«Da waren zehn deutsche Bomber in der Luft. Und die Royal Air Force aus England, die Royal Air Force aus England schoss sie ab.»
Ich war so perplex, dass ich nicht einmal merkte, wie sehr sich mein Englisch im zweiten Jahr in London verbessert hatte: Ich verstand die Schlachtgesänge problemlos.
«Da waren neun deutsche Bomber in der Luft. Und die RAF aus England, die RAF aus England …»
Was hatte Fußball mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?, fragte ich mich. In England eine ganze Menge, wie ich lernte.
Wenn wir an andere Völker denken, fallen uns als Erstes meistens ein paar Klischees ein: die tanzenden Brasilianer, die übertrieben gestikulierenden und untertrieben steuerzahlenden Italiener, die aufbrausenden, aber dann in den Mittagsschlaf versinkenden Spanier. Wir Deutschen sind für die anderen beim ersten Gedanken das Volk der ernsthaften, steifen Weltkrieger, die sich wie Roboter bewegen und nur auf Knopfdruck lachen. Solche Klischees helfen den Menschen, sich im Umgang mit Fremden sicherer zu fühlen. Da glauben sie zu wissen, wo sie stehen, wenn sie mal einem Ausländer begegnen.
Fußball hilft, diese Klischees zu verfestigen. Unterschwellig erwarten wir immer noch, dass die Brasilianer wie Sambatänzer spielen werden oder die Engländer wie Gentlemen kämpfen müssten, ehrlich und letztendlich naiv. So wollten die Engländer in den
Weitere Kostenlose Bücher