Unser Mann in London
zum unerträglichen Egoisten, zum Söldner, weil er vehement versuchte, aus einem Vertrag bei der TSG Hoffenheim herauszukommen, um in der Premier League mehr Geld zu verdienen. Aus der Sicht eines Profis ist eine bessere Offerte ein Aufstiegssymbol, und ein Profi ist darauf ausgerichtet, immer weiter, immer höher zu streben, so hat man uns in diesem Beruf erzogen.
Die Fans messen uns an Werten wie Leidenschaft und Treue. Der kämpft nicht mal. Der ist beim erstbesseren Angebot gleich wieder weg. Wir Profis arbeiten nach Kriterien wie taktische Disziplin und persönlicher Ehrgeiz. Ich kann bei 0:1 nicht wie ein Berserker über den Platz rennen und in den Gegner grätschen, weil ich dann das taktische Netz meiner Mannschaft zerreiße. Also bleib ich äußerlich kühl im Raum stehen, auch wenn der Ball fünf Meter entfernt ist. Ich tausche Hoffenheim nicht ohne Gefühle, aber doch letztendlich selbstverständlich für West Ham United, wenn ich wie Demba Ba in Frankreich geboren und aufgewachsen bin. Denn wie soll ich dann für einen beliebigen deutschen Verein eine tiefe Verbundenheit empfinden?
Du kannst als Profi nicht Fan sein. Manche Profis waren vor ihrer Fußballkarriere Fans, Manuel Neuer von Schalke oder Kevin Großkreutz von Borussia Dortmund. Beide werden sich immer mit dem Klub ihrer Fanzeit identifizieren, aber diese Identifikation habe zum Beispiel auch ich mit Arsenal und Fulham. Ein Fan jedoch glaubt, es gebe nichts Größeres als seinen Verein. Das kann ein Profi nie glauben. Schon allein deshalb nicht, weil wir erleben, wie es in so einem Verein zugeht.
2006 verwandelte ich mich dennoch in einer Weltmeisterschaftswoche in einen Fußballfan im ursprünglichsten Sinne: Ich gab mich dem Spiel hin und ließ mich von den Emotionen tragen, die es weckt. Die Sonne wich nicht vom Himmel, die Feiertagslaune blieb alle WM -Werkstage hindurch in Deutschland, und die Leute liefen als Rollkäse oder Känguru verkleidet durch das Land, jedenfalls wenn sie Holländer oder Australier waren. Ich ließ mich bereitwillig anstecken. In manchem Moment war ich mir sicher: Es ist viel besser, Fußballfan als Fußballprofi zu sein.
Am Hamburger Flughafen, auf dem Weg zu meinem zweiten Spiel in Köln, bemerkte ich, wie zwei Hostessen versuchten, einem Mann mit den gepflegten Gesichtszügen eines Geschäftsmannes und dem Holland-Plastiktrikot eines Fans irgendein Werbegeschenk schmackhaft zu machen, obwohl der Mann offensichtlich kein Wort verstand. Ich ging zu ihm, um ihm auf Englisch beizustehen. Er schüttelte mir die Hand und sagte, danke, er sei Khalid aus Ägypten. Ein paar Monate später würde ich mit Anneke nach Kairo fahren, um ihn zu besuchen. Ohne die Atmosphäre der Weltmeisterschaft, ohne dieses Gefühl, losgelöst zu sein, wäre unsere Freundschaft zwischen zwei Hostessen mit einem Werbegeschenk nie entstanden.
In Hamburg auf dem Flughafen ließ ich Khalid allerdings erst einmal stehen, kaum dass wir uns kennengelernt hatten. Ich hatte Roger Milla entdeckt.
Ich hatte ihn das letzte Mal 16 Jahre zuvor, mit sieben, auf dem Bildschirm eines Röhrenfernsehers in Bürbach gesehen, aber ich erkannte ihn sofort wieder. Er sah noch genauso aus wie 1990, als er, 38-jährig, bei der WM in Italien nach seinen Toren für Kamerun mit der Eckfahne tanzte und mittelalten Männern mit Bauchansatz überall auf der Welt die Illusion schenkte, sie seien noch zu allem fähig. Vermutlich spielte er mit nunmehr 54 Jahren weiterhin irgendwo Fußball. Ich rannte ihm hinterher. Ich wollte ein Autogramm von ihm, ohne darüber nachzudenken, wie anstrengend für Profifußballer diese ständigen Fragen nach Autogrammen sein konnten. Ich war doch jetzt Fan.
Ich zauberte mein bestes A-level-Französisch hervor, und er verstand mich sogar. Als ich mich bückte, um Stift und Zettel herauszuholen, fielen mir etliche Sachen aus dem Handgepäck.
Ich kniete vor Roger Milla auf dem Fußboden, um die Sachen schnell zusammenzusuchen, und während er all die Karten betrachtete, die aus meiner Tasche gefallen waren, konnte ich an seinen Augen erkennen, dass er sich fragte: Wer ist dieser Wahnsinnige?
Um uns herum lagen Dutzende meiner eigenen Autogrammkarten verstreut, die ich meinem Vater in Bürbach mitbringen sollte.
Ich suchte einen ehrenvollen Platz für Roger Millas Autogramm. Ich ließ ihn auf dem Cover des Panini-Albums unterschreiben.
Auf dem Flug nach Köln klebte ich Fußballbilder ein. Arne Friedrich ging voll schwer.
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