Unser Spiel
selbstbewußt ist wie immer: »Ich meine, dir macht es nichts aus, deine Seele zu verkaufen. Du hast gar keine. Aber was ist mit meiner?«
Ich ignoriere seine Bitte. »Die Russen rekrutieren Linke, Rechte und Gemäßigte«, sage ich mit der Stimme reiner Vernunft, die er am meisten haßt. »Sie sind vollkommen skrupellos und sehr erfolgreich. Falls der Kalte Krieg jemals heiß wird, haben sie uns in der Hand, es sei denn, wir schlagen sie in ihrem eigenen Spiel.«
Und meine Taktik geht auf, denn am nächsten Tag geht Larry, womit niemand außer mir gerechnet hat, zu dem Rückzugstreffen mit seinem Kontaktmann und entledigt sich seiner Aufgabe in der Rolle des Heimlichen Beschützers der Gerechten wie ein Engel. Denn am Ende – ich war damals jünger und fest davon überzeugt –, am Ende beugt sich der Pfarrerssohn, richtig geführt, stets unters Joch, trotz seiner törichten Unschuld.
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Mein Ausweis lag in der rechten oberen Schublade meines Schreibtischs. Umschlag Blau und Gold, vierundneunzig Seiten stark, ein echter britischer Ausländerschreck der alten Schule, ausgestellt auf Timothy d’Abell Cranmer, nicht in Begleitung von Kindern, keine Berufsangabe, Geltungsdauer noch sieben Jahre, hoffentlich lebt der Inhaber noch so lange.
»Bringen Sie Ihren Ausweis mit«, hatte Merriman gesagt.
Wozu? Wohin will er mich schicken? Oder soll das im Geiste alter Kameradschaft heißen: Sie haben bis morgen fünfzehn Uhr Zeit, sich aus dem Staub zu machen?
Mir klangen die Ohren. Ich hörte Schreie, dann Schluchzen, dann das Stöhnen des Winds. Ein Unwetter zog auf. Der Zorn Gottes. Gestern dieser verrückte Herbstschnee, und heute nacht ein ausgewachsener Seesturm, der mit den Fensterläden klappert, unterm Dachvorsprung heult und das ganze Haus knarren läßt. Ich stand am Fenster des Arbeitszimmers und sah die Regentropfen ans Glas klatschen. Ich spähte in die Finsternis und erblickte Larrys bleiches, grinsendes Gesicht und seine schöne weiße Hand, die an die Scheibe klopfte.
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Silvesterabend, aber Emma hat ihre Rückenschmerzen und ist nicht zum Feiern aufgelegt. Sie hat sich in ihre königlichen Gemächer zurückgezogen, wo sie lang ausgestreckt auf ihrem Schlafbrett liegt. Unsere Schlafvereinbarung würde jeden, der nach der herkömmlichen Liebeslaube sucht, vor ein Rätsel stellen. Sie bewohnt eine Seite des Hauses, ich die andere; so haben wir es vom ersten Tag an verabredet: Jeder von uns sollte sein eigenes Reich haben, sein Territorium, sein Recht auf Alleinsein. Die Forderung kam von ihr, und ich erklärte mich einverstanden, weil ich nicht recht glauben konnte, daß sie auf meinem Versprechen bestehen würde. Aber das tut sie. Selbst wenn ich ihr Tee oder Brühe bringe oder sonst etwas, das sie aufheitern könnte, klopfe ich an und warte, bis ich sie sagen höre, daß ich eintreten darf. Und heute, weil es unser erster Silvesterabend ist, darf ich neben ihr auf dem Boden liegen und ihre Hand halten; wir sprechen zur Decke, aus ihrer Stereoanlage kommt Lautenmusik, und das restliche England feiert.
»Er ist wirklich der letzte Typ«, sagt sie unwillig – mit einer Prise Humor, gewiß, was aber nicht reicht, ihre Enttäuschung zu verschleiern – »ich meine, selbst Larry muß doch wissen, wann Weihnachten ist. Er hätte wenigstens anrufen können.«
Also erkläre ich ihr, und nicht zum erstenmal, daß Weihnachten für ihn ein Greuel ist; daß er, seit ich ihn kenne, noch jedes Weihnachten gedroht hat, zum Islam überzutreten; und daß er zu Weihnachten vor Wut jedesmal eine verrückte Reise unternimmt, um der Scheußlichkeit des pseudochristlichen englischen Trubels zu entfliehen. Ich male ihr scherzend aus, wie er mit einer Schar Beduinen durch ungastliche Wüsten zieht. Aber es kommt mir vor, als höre sie kaum zu.
»Trotzdem, es gibt doch heute keinen Ort mehr auf der Welt, von wo aus man nicht telefonieren kann«, sagt sie streng.
Denn inzwischen ist Larry unser Sorgenkind, unser Genius auf Abwegen. Fast nichts in unserem Leben geschieht ohne irgendeine Anspielung auf ihn. Selbst unser jüngster Cuvée, der zwar erst in einem Jahr trinkbar sein wird, hat hausintern den Spitznamen Château Larry bekommen.
»Wir rufen ihn oft genug an«, nörgelt sie. »Ich meine, er könnte uns wenigstens Bescheid sagen, daß es ihm gut geht.«
Tatsächlich ist sie es aber, die ihn anruft, doch wäre jeder Hinweis darauf ein Eingriff in ihre Souveränität. Sie ruft ihn an, um sich zu vergewissern,
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