Unsere Claudia
Blumen. „Die roten sind für deine Mutter, und die weißen für dich.“
Claudia packte aus. Es waren zwei Rosensträuße, ein roter und ein weißer.
„Oh, tausend Dank, Onkel Peter – es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen Rosenstrauß bekomme.“
„Aber bestimmt nicht der letzte“, lachte Onkel Peter. „Gib ihnen Wasser, und stell sie irgendwohin. So, vielen Dank!“
Als Claudia wieder aus der Küche hereinkam, in jeder Hand eine Blumenvase, hockte Onkel Peter vor dem Weihnachtsbaum. Er richtete sich gerade wieder auf und klappte die leere Aktentasche zu. Unter dem Baum lagen jetzt vier, fünf Pakete mehr.
Nun kam Mutti, jung und frisch, und sorgfältig zurechtgemacht, das Haar frisch gebürstet, und mit glänzenden Augen. Es war noch nie vorgekommen, daß Mutti an einem Weihnachtsabend so frisch ausgesehen hatte und so gut aufgelegt war.
„Sieh mal einer an, da haben wir die große Schwester“, lachte Onkel Peter. „Ja, denn du siehst heute aus, als wärest du nicht mehr als zwanzig, Anita!“
Claudia zuckte zusammen. Du! Sagte Onkel Peter „du“ und Anita zu Mutti?
Der Mutter Augen fingen blitzschnell Claudias Blick auf. „Ja, Onkel Peter und ich haben jetzt auch Brüderschaft geschlossen“, meinte Mutti, und ihre Stimme klang so warm und so zuversichtlich, wie Claudia sie so gut an ihr kannte. „Das ist doch viel netter, findest du nicht auch?“ Nett, nett! Alles war so nett! Onkel Peter und Mutti betonten ja geradezu um die Wette, wie außergewöhnlich nett alles sei!
Aber sie hatten ja auch recht. Drei heitere, freundliche Menschen an einem friedvollen Heiligabend mit einem schönen Weihnachtsbaum und gutem Essen und einer wunderhübsch geschmückten Stube mit Tannenzweigen und Kerzen: Mußte nicht jeder diesen Abend nett finden? „Ich bin aber froh, daß Mutti nicht meine Schwester ist“, sagte Claudia. „Ich habe eine Mutter viel nötiger als eine Schwester.“
„Beides zusammen wäre wohl am allerbesten“, meinte Onkel Peter, „Übrigens muß deine Mutter dich gut erzogen haben, daß du so selbständig und tüchtig geworden bist“!
„Na, mit der Erziehung war es wohl nicht gar so weit her“, lächelte Mutti. „Ich habe sicher ganz vergessen, dir Gardinenpredigten zu halten und dir Haus- und Stubenarrest und dergleichen zu geben, nicht wahr, Claudia?“
„O ja“, lachte Claudia. „Das hast du ganz vergessen! Ich Ärmste bin wirklich schlimm dran, ich habe mich eigentlich selber erziehen müssen.“
„Ja“, sagte Mutti und war mit einemmal ernst. „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Claudia! Euch selber erziehen, das eben müßt ihr ja tun, ihr Schlüsselkinder!“
„Ach Quatsch“, sagte Claudia, und ihre Stimme klang mit einemmal sonderbar scharf. „Natürlich hast du mich erzogen, Mutti, und ich brauche keinem Menschen leid zu tun, weil ich ein Schlüsselkind bin! Mir geht es gut, und ich möchte es ganz und gar nicht anders haben – unter gar keinen Umständen! Und ich will meine Mutti als Mutter haben und nicht als große Schwester, und…“ Claudias Stimme bebte plötzlich, und sie stand jäh vom Tisch auf.
„Ich habe den Zucker vergessen“, murmelte sie mit unsicherer Stimme und ging ganz schnell aus dem Zimmer und in die Küche.
Dort blieb sie stehen; sie biß sich auf die Lippe und versuchte, sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Was fiel ihr denn ein? Weshalb war sie plötzlich so heftig geworden – ja beinahe unverschämt? Was hatte sie gesagt? „Quatsch“, hatte sie zur Mutti gesagt. Und noch dazu, während Onkel Peter es hörte.
Warum mochte sie es nicht, daß Onkel Peter über Muttis jugendliches Aussehen scherzte? Warum war ihr so darum zu tun, daß Onkel Peter wissen sollte, wie gut es ihr ging? „Warum mußte sie es Onkel Peter unbedingt begreiflich machen, daß sie keinerlei Änderung wünschte, daß sie sich wohl fühlte als Schlüsselkind?
Claudia biß sich schon wieder auf die Lippe, daß es schmerzte.
Es war ihr peinlich, daß sie heftig geworden war. Was mußte Onkel Peter denken? Sie wollte ja nur so furchtbar gern, daß er einsehen sollte, wie gut Mutti und sie zusammenlebten!
Claudia richtete sich auf, schluckte und strich sich schnell mit dem Handrücken über die Augen.
Dann ging sie wieder hinein, geradewegs auf die Mutter zu und streichelte ihr die Wange.
»Verzeih, Mutteichen. Ich habe vorhin ,Quatsch c zu dir gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint. Es war nur, weil – weil du dir selber Vorwürfe
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