Unsere Oma
setzte sich mit ihm auf eine Treppe. Die Feder saß fester, als er geglaubt hatte.
Als er sie endlich in der Hand hielt und mit etwas schlechtem Gewissen den blutigen Federkiel betrachtete, ergoß sich plötzlich eine Flut von Schimpfworten über ihn.
»Was fällt dir ein, was machst du mit meinem schönsten Hahn? Willst du ihn umbringen? Ich zeige dich bei der Polizei an, die wird dich einsperren. Jawohl, einsperren!«
Vor Jan stand Karoline im Schlafanzug mit zerzaustem Haar und zornfunkelnden Augen. »All die Wochen hab’ ich dir meine schönsten Federn gegeben«, schrie sie, »und nun kommst du an und reißt heimlich meinem Hahn den Schwanz aus!«
Der Hahn, den Jan inzwischen losgelassen hatte, schüttelte sich und stolzierte davon. Als Karoline sah, daß sein Schwanz noch ebenso schön wie vorher aussah, beruhigte sie sich und sagte etwas sanfter: »Ich dachte, der Fuchs wäre im Stall, weil die Hühner so schrien.«
»Sei nicht böse, Karoline, ich hab’ ihm nur eine lose Feder ausgezogen. Es ging ganz leicht.« Jan verbarg den blutigen Federkiel. »Oma hat doch heute Geburtstag, und da brauche ich die Feder dringend.«
Karoline. brummte noch etwas vor sich hin, dann setzte sie sich neben ihn auf die Treppe und fragte: »Kann ich nicht auch zum Geburtstag kommen?«
Jan versprach ihr, dafür zu sorgen, daß sie eingeladen würde, und da war sie völlig versöhnt.
Um acht Uhr wurde Oma durch ein Ständchen geweckt. Ingeborg spielte auf der Geige, und die Kinder sangen »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«.
Fertig angezogen, in ihrem besten schwarzen Kleid, stieg Oma langsam die Leiter vom Schlafboden herunter. Nun gab es ein Küssen und Gratulieren. Oma wurde fast erdrückt. Jeder wollte sein Geschenk zuerst überreichen.
Peter hatte ein Bild gemalt. »Das bist du, Oma«, sagte er. »Guck mal, du hast nicht nur Kopf und Beine, du hast auch einen Bauch, und zähl mal die Finger!«
Während sie zählte, sah er sie gespannt an. »Eins, zwei, drei, vier, fünf. Stimmt genau!«
Er bekam einen Kuß.
Brigitte hatte Oma ein Paar Pulswärmer gestrickt, aus schwarzer Wolle und ganz weich.
»Wie schön!« rief Oma. »Nun brauche ich nicht mehr zu frieren.«
»Jetzt im Sommer friert man ja sowieso nicht«, sagte Jan.
»Auch im Sommer gibt es kühle Tage«, meinte Oma.
Nun zog Jan die Indianerhaube hinter seinem Rücken hervor. Oma war ganz überwältigt.
Heiner überreichte ihr eine Riesenschachtel mit Konfekt, und Ingeborg hatte ihr eine weiße Bluse genäht.
Paulchen flog auf ihre Schulter und rief: »Hoch soll sie leben!« Eifersüchtig strich Kater Fridolin, dem Brigitte ein rotes Band um den Hals gebunden hatte, um Omas Beine.
Erst ganz zum Schluß konnten die Eltern ihre Glückwünsche anbringen. Vater Pieselang küßte Oma auf die Wange und sagte: »Alles Gute, meine ewig junge Mama!«
»Manchmal bin ich dir ein bißchen zu jung, nicht wahr?« lachte Oma.
Die ganze Familie versammelte sich um die große Frühstückstafel. Omas Platz war mit Blumen geschmückt. Auch das Baby war dabei. Ingeborg fütterte es mit Brei. Plötzlich rief sie: »Oma, das Baby schenkt dir auch etwas zum Geburtstag!«
Alle schwiegen erwartungsvoll und sahen zu ihr hin. Sie steckte den Löffel in Babys Mund und bewegte ihn ein wenig hin und her. Kling! machte es, kling!
»Der erste Zahn! Es hat seinen ersten Zahn bekommen, genau an Omas Geburtstag!« jubelte die ganze Familie.
Darüber mußte das Baby so lachen, daß alle das weiße Zähnchen blitzen sahen.
»Was für ein herrlicher Tag!« sagte Oma befriedigt.
Aber die eigentliche, die große Überraschung sollte erst noch kommen. Sie waren im schönsten Schmausen, da klopfte es an die Tür. Feuerwehrmann Meyer I, der auch Botengänge für das Bürgermeisteramt machte, trat ein, schritt mit ernstem Gesicht auf Oma zu, verbeugte sich und überreichte ihr einen großen Brief. Dann stand er stramm, wie vor einem General, machte kehrt und marschierte wieder zur Tür hinaus. Mit zitternden Fingern versuchte Oma, den Brief zu öffnen, was ihr erst gelang, als sie eine Haarnadel aus ihrem Zopf zu Hilfe nahm. Während die andern gespannt zuhörten, las sie laut:
»Sehr verehrte, gnädige Frau!
Erst jetzt ist es dem Bürgermeister zu Ohren gekommen, daß Sie in diesem Winter seinen Sohn unter Einsatz des eigenen Lebens vom Tode des Ertrinkens gerettet haben. Außerdem haben wir erfahren, daß Sie Geburtstag haben, und aus diesem Grunde möchte Ihnen der dankbare Herr
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