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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ihr von seinem Gespräch mit Cecile am Donnerstag (ohne zu erwähnen, dass es am Vormittag stattfand, als sie eigentlich in der Schule hätte sein sollen) und sagt, sie hätten sich offen über alles ausgesprochen. Cecile wisse, dass er für sie unerreichbar sei, dass er gerade eine sehr schmerzliche Trennung von einer Frau in New York hinter sich habe und nicht in der Verfassung sei, eine Liebesaffäre mit einer anderen anzufangen.
    Stimmt das, fragt Helene, oder haben Sie das nur erfunden, um sie zu schützen?
    Ich habe das nicht erfunden, sagt Walker.
    Sie Armer. Da machen Sie wohl eine schlimme Zeit durch.
    O ja. Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht verdient hätte.
    Ohne auf diese kryptische Bemerkung einzugehen, drängt Helene weiter: Und was hat sie gesagt, als Sie ihr von Ihrer ... Situation erzählt haben?
    Sie sagte, sie verstehe das.
    Sonst nichts? Sie hat keine Szene gemacht?
    Keine Szene. Sie war sehr ruhig.
    Das überrascht mich. Es sieht ihr gar nicht ähnlich.
    Ich weiß, sie ist ein nervöses Wesen, Madame Juin, ich weiß, sie ist nicht besonders stabil, aber sie ist auch ein sehr bemerkenswerter Mensch, und ich habe den Eindruck, sie ist viel stärker, als Sie glauben.
    Das ist natürlich Ansichtssache, aber hoffen wir, dass Sie recht haben.
    Außerdem, und das wird Sie interessieren, haben Sie sich getäuscht, als Sie mir sagten, sie habe keine Erfahrung mit Männern.
    Ach ja. Und wo hat sie diese Erfahrungen gesammelt?
    Ich habe schon genug gesagt. Wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie Cecile selbst fragen. Ich bin schließlich kein Spion.
    Wie taktlos von mir. Sie haben vollkommen recht. Verzeihen Sie, dass ich gefragt habe.
    Ich will darauf hinaus, dass Cecile erwachsen wird, dass es vielleicht an der Zeit ist, sie gehen zu lassen. Sie brauchen sich nicht mehr solche Sorgen um sie zu machen.
    Es ist unmöglich, sich um dieses Mädchen keine Sorgen zu machen. Das ist mein Job, Adam. Mir um Cecile Sorgen machen. Ich mache mir Sorgen um sie, solange sie lebt.

    [Nach dem Wort lebt findet sich eine Lücke in Walkers Manuskript, und das Gespräch bricht abrupt ab. Bis dahin waren die Notizen fortlaufend, eine ununterbrochene Folge dicht gepackter, einzeilig geschriebener Absätze, hier jedoch ist eine Leerstelle von annähernd einer Viertelseite, und dort, wo der Text unterhalb dieses weißen Rechtecks weitergeht, setzt ein ganz neuer Tonfall ein. Viel ist nicht mehr übrig (wir sind inzwischen auf Seite 28, das heißt, es sind nur noch drei Seiten), und ab hier verzichtet Walker auf die akribische, chronologische Vorgehensweise, die er bis dahin eingeschlagen hatte, und bringt nur noch eine gedrängte Zusammenfassung der letzten Ereignisse seiner Geschichte. Ich kann nur vermuten, dass er mitten in dem Gespräch mit Helene steckte, als er beim Schreiben unterbrochen wurde, und als er am nächsten Morgen aufwachte (falls er überhaupt geschlafen hatte), hatte sein Zustand sich plötzlich verschlechtert. Man bedenke, das waren die letzten Tage seines Lebens, und er muss sich zu kaputt, zu erschöpft gefühlt haben, zu schwach, um weiterzumachen wie zuvor. Auch vorher schon, im Lauf der ersten achtundzwanzig Seiten, hatte ich ein langsames, aber unausweichliches Schwinden seiner Kräfte bemerkt, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit fürs Detail, aber jetzt ist er so sehr eingeschränkt, dass er nur noch die wesentlichsten Punkte notieren kann. Er beginnt Herbst mit einer ziemlich ausführlichen Beschreibung des Hotel du Sud, er erwähnt, womit Born bei ihrer ersten Begegnung im Cafe bekleidet ist, aber nach und nach geht es in seinen Schilderungen immer weniger um die physische Welt und zunehmend um innere Zustände. Von Kleidung ist keine Rede mehr (Margot, Cecile, Helene - kein Wort darüber, wie sie angezogen sind), und nur wenn es für seinen Zweck entscheidend zu sein scheint, macht er sich die Mühe, seine Umgebung zu schildern (ein paar Sätze über die Atmosphäre im Vagenende, ein paar Sätze über die Wohnung der Juins), aber hauptsächlich besteht die Geschichte aus Gedanken und Dialogen, was Leute denken und was Leute sagen. Auf den letzten drei Seiten ist der Zusammenbruch nahezu vollständig. Walker verschwindet aus der Welt, er spürt, wie das Leben langsam aus seinem Körper weicht, und doch kämpft er sich weiter, so gut er kann, setzt sich ein letztes Mal an seinen Computer und bringt die Geschichte zu Ende.]

    H. und W. am Küchentisch. Kaffee, Brot und Butter, ein Topf

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