Unsterbliche Bande
aber wenigstens hatte er es gemerkt und Lily die Führung überlassen.
Die sie auch mit Effizienz übernommen hatte, indem sie viele Fragen stellte. Nicht die, auf die er gern eine Antwort gehört hätte, so wie:
Wie ist deine Mutter gestorben?
Oder:
Sah sie aus wie du? Wie ich?
Oder:
Hast du je daran gedacht, mit mir Verbindung aufzunehmen?
Nein, sie hatte das gefragt, was wichtig war … und wichtig sein würde, wenn er sich erst wieder gefangen hatte.
Am besten, er fing gleich jetzt damit an. Am Fuß der Treppe angekommen, begann Rule: »Wenn Friar –«
»Lass uns darüber im Auto reden«, sagte Lily.
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Wenn Friar involviert war, war alles möglich … auch dass jemand sie gerade mit einem Richtmikrofon abhörte. Unwahrscheinlich, aber möglich. Er hätte daran denken sollen. »Du hast Recht.« Dann sagte er, an Scott gewandt: »Lass Chris und Alan hier, sie sollen Jasper im Auge behalten. Die anderen folgen uns ins Hotel. Schick Barnaby und Joe vor, damit sie den Wagen überprüfen.« Als sie ein Stück gegangen waren, fragte er Lily: »Ist Drummond hier irgendwo?«
»Nicht so, dass ich ihn sehen kann.«
Was eigentlich bedeutete, dass er nicht mithören konnte, aber … »Würde es dir etwas ausmachen, die Halskette umzulegen?« Als Antwort griff sie in ihre Handtasche, zog sie hervor und legte die Hand um die Steine. »Sie wirkt schon bei Hautkontakt. Sollte sie zumindest.«
Sie sagte ihm nicht, dass es verständlich war, dass er aufgewühlt war. Sie fragte nicht, was er von Jasper Machek hielt oder wie er sich fühlte. Sie hielt die Kette zur Abwehr von Geistern in einer Hand und nahm seine Hand in die andere, um dann schweigend neben ihm herzugehen. Dafür war er ihr dankbar, wie für so vieles andere auch. Er wusste nicht, was er fühlte oder dachte, und er konnte es sich nicht leisten, aufgewühlt zu sein. Nicht, wenn Friar seine Finger im Spiel hatte.
Mit zügigen Schritten gingen sie die Straße hinunter. Rule versuchte seinen Geist zu leeren. Es klappte nicht. In ihm herrschte immer noch Chaos, als sie die erste Straße überquerten und Lily das Schweigen brach.
»Ich mag Jasper.«
»Ich auch.« Das hatte er nicht erwartet. Überhaupt hatte er etwas … gänzlich anderes erwartet. Das einfach zu ignorieren, würde ihm wohl nicht gelingen. Solange er sich nicht dem stellte, was ihn aus unerfindlichen Gründen so sehr beschäftigte, würde er sich nicht auf das konzentrieren können, was eigentlich zählte. Er blieb stehen und warf einen Blick zurück zu Scott. »Ich muss ein bisschen spazieren gehen und den Kopf freibekommen. Wenn der Wagen sauber ist, dann sollen sie ihn um den Block fahren, bis ich Bescheid gebe.« Mit einer schnellen Geste ließ er Scott wissen, dass er einige Meter zurückfallen solle.
»Soll ich gehen?«, fragte Cullen.
»Oder fahren. Mir wäre es lieber, wenn du nicht allein zu Fuß durch eine Gegend gehen würdest, wo jemand leichten Zugriff auf dich hat. Bleib entweder bei Scott oder steig mit den anderen in den Wagen.«
Rule ging weiter. Scott und Cullen fielen zurück. Wenn er mit leiser Stimme sprach, würden sie nicht mehr als manchmal einzelne Worte verstehen. Und nun, da er frei reden konnte, wusste er nicht, was er sagen sollte.
Lily machte nicht den Anfang. Ausnahmsweise stellte sie mal keine Fragen. Sie hielt einfach mit ihm Schritt, zwei Blocks lang. Doch nun gelang es ihm aus irgendeinem Grund, den Lärm in seinem Kopf zu überhören und dafür die Geräusche der Stadt wahrzunehmen … Autos, Stimmen aus den Häusern, an denen sie vorbeikamen, ein Hund im Block davor, eine Katze in diesem. Das leise Tappen von Lilys Schritten neben ihm. Ihre Hand lag warm in seiner. Er beobachtete, wie eine Frau in Freizeitkleidung einen Sportkinderwagen auf der anderen Straßenseite vor sich herschob. Das Kind darin schien tief und fest zu schlafen. Und er hörte sich selbst sagen: »Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass sie tot sein könnte.«
Lily blieb stehen und mit ihr auch er. Sie sah ihn an. »Oh Rule.«
»Ich hätte es in Betracht ziehen müssen. Wenn sie noch lebte, wäre sie jetzt über achtzig, daher wäre es natürlich durchaus möglich gewesen. Aber solange ich nicht an sie dachte …«, er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, »war sie nicht real. Sie war keine Person für mich, aber wenn ich nicht an sie dachte, war sie immer noch irgendwo am Leben.« Frustriert fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, warum das
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