Unsterbliche Bande
Beth war nicht das modebesessene Dummchen, das sie gern vorgab zu sein, aber wenn es um ihren Job ging, hatte Lilys Familie einen blinden Fleck und neigte dazu, ihre Verfügbarkeit zu überschätzen.
Lily tippte auf das Display. Rule hörte es klingeln, dann: »Lily!«
»Beth?«, sagte Lily. »Was hast du – ?«
»Gott sei Dank rufst du an. Er ist verschwunden. Die Polizei will nichts unternehmen«, sagte sie bitter. »Sie haben mir diesen Blödsinn erzählt, dass man achtundvierzig Stunden warten muss. Sie nehmen an, er sei vergesslich oder betrunken oder will mich nur nicht sehen, aber Sean ist so zuverlässig wie der Sonnenaufgang. Wir waren heute um zehn verabredet – ein Geschäftstermin –, aber er war nicht da, und das sieht ihm gar nicht ähnlich. Und ich finde niemanden, der ihn nach unserem Bojuka-Kurs gestern Abend noch gesehen hat.«
»Von wem sprichst du?«
»Sean. Ich dachte, das hätte ich gesagt. Sean ist verschwunden. Sean Friar.«
Beths winzige Wohnung in dem Gebäude ohne Aufzug war zwar geografisch gesehen nicht weit von Macheks Haus entfernt, ökonomisch gesehen jedoch lagen Lichtjahre dazwischen. Das Wohnzimmer – gleichzeitig auch Esszimmer und Küche – war bunt, vollgestopft und eng. Nach einem einzigen Blick hinein hatte Rule Scott angewiesen, draußen zu warten. Wo die anderen Wachen waren, wusste Lily nicht. Bis sie die Kissen beiseitegeschoben und sich auf dem schäbigen, aber bequemen Sofa niedergelassen hatte, hatte Lily bereits fünf Elefanten gezählt, inklusive des gerahmten Drucks, den sie Beth dieses Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Beth liebte Elefanten. Der große, quadratische Couchtisch war ebenfalls Beths Beitrag, auch wenn er noch nicht neonpink gestrichen gewesen war, als er im Wohnzimmer ihrer Mutter gestanden hatte. Das Appartement roch komisch. Nicht nach Gras, sondern nach irgendeinem Räucherwerk, dachte sie.
Rule setzte sich neben sie auf das Sofa. Cullen parkte seinen Hintern auf dem einzelnen Barhocker, der als zusätzliche Sitzgelegenheit diente. Beth ging auf und ab, während sie sprach, das Handy mit einer Hand umklammert wie ein Schmusetuch. Sie hofft, dass er anruft, dachte Lily. Sie glaubt nicht daran, will das Telefon aber trotzdem nicht aus der Hand legen.
»Sein Motorrad und sein Auto waren da, deswegen habe ich die Fenster überprüft, aber sie waren alle verschlossen. Die im Erdgeschoss zumindest. An die im oberen Stock kam ich nicht ran.« Beth wirbelte zu Lily herum. »Was, wenn er da drinnen liegt und so schlimm verletzt ist, dass er nicht antworten kann?« Tränen glitzerten in ihren Augen. »Die blöde Polizei will nicht nachsehen!«
Kurz vor Weihnachten hatte sie ihr Haar schneiden lassen, sodass Lily den neuen kurzen Schnitt bereits kannte, aber die blaue Strähne war neu. Der stachlige Look war mehr der Aufregung geschuldet als ein modisches Statement; immer wieder fuhr Beth sich mit den Händen hindurch. »Sie dürfen nicht in anderer Leute Heim einbrechen, es sei denn, es gibt einen zwingenden und dringenden Grund. Es handelt sich wohl um ein Haus, nicht um eine Wohnung?«
»Ja. Ist das wichtig?«
»Manchmal öffnet ein Hausmeister der Polizei eine Wohnung auch ohne richterlichen Beschluss. Sean arbeitet zu Hause, sagtest du. Hat er eine Haushälterin?«
»Sie kommt nur zweimal die Woche. Heute ist nicht ihr Tag.«
»Und er hat sonst keine Angestellten?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Carly und John angerufen habe!«
»Du hast mir nicht gesagt, dass sie seine Angestellten sind. Was haben sie getan, als sie zur Arbeit kamen und Sean nicht dort war?«
»Oh. Sie sind nicht gekommen. Sie arbeiten auf Auftragsbasis, so wie ich, haben aber fast einen Vollzeitjob. Trotzdem arbeiten sie von zu Hause aus. Sean entwirft die grundlegende Architektur einer Software und übernimmt dann die heikleren Aufgaben – er ist wirklich brillant –, und sie arbeiten an einigen der anderen Komponenten weiter. Mich beauftragt er mit den Grafiken, wenn welche gebraucht werden. Darüber wollten wir heute sprechen. Ich habe schon einige grobe Skizzen fertig.«
»Ich brauche ihre Telefonnummern und ihre vollen Namen. Außerdem die Namen und Nummern von allen, die du angerufen hast oder die dir sonst noch einfallen, dann noch seine Adresse, Marke und Modell seines Wagens und seines Motorrads.«
»Aber das Auto und das Motorrad stehen noch dort.«
»Tu’s mir zuliebe.«
Das Auto war ein älterer Lexus. Beth kannte das Baujahr nicht,
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