Unsterblichen 02 -Unsterblich wie ein Kuss-neu-ok-27.01.12
keinen Grund, sich nicht zu der Frau zu setzen. Sie
orientierte sich an dem Geruch der frisch polierten leeren Sitzflächen der
Holzstühle und nahm Platz. Vielleicht würde Ismail ja noch auftauchen, dachte
sie und schöpfte neue Hoffnung.
»Ihr
Kleid ist übrigens wunderhübsch.«
Violet
hob erstaunt die Brauen und wandte der Frau überrascht den Kopf zu. Sie hatte
zwar gehofft, dass Sarahs Kreation den Ansprüchen gerecht werden würde, aber
›wunderhübsch‹? Das würde sie Sarah erzählen müssen. Die Seiltänzerin war eine
leidenschaftliche Hobbyschneiderin und in ihrer Freizeit immerzu mit dem Nähen
von Kleidern aus Stoffresten beschäftigt, die sie wer weiß wo auftrieb. Sie
würde sich bestimmt über ein solches Kompliment freuen.
»Danke«,
antwortete Violet lächelnd. Eigentlich hätte es die Höflichkeit erfordert, dass
nun sie eine Bemerkung über Angelicas Kleid machte, aber das konnte sie ja
schlecht.
Sie
sog unauffällig die Luft ein und nahm nun den zarten Jasminduft wahr, der die
Frau neben ihr umhüllte.
»Jasmin
passt wunderbar zu Ihnen«, bemerkte sie.
»Ach!«,
sagte Angelica überrascht. »Aber ich habe seit gestern früh kein Parfüm mehr
aufgetragen. Muss ein stärkeres Öl sein, als ich dachte.«
Na wunderbar, dachte Violet verärgert. Sie hasste Tage wie diese,
an denen sie in ein Fettnäpfchen nach dem anderen zu treten schien. Natürlich
hätte sie Angelica jetzt verraten können, dass sie blind war, aber das wollte
sie nicht. Die Leute behandelten sie dann immer, als ob sie taub oder geistig
minderbemittelt wäre.
»Nein,
nein, es ist überhaupt nicht stark. Aber es riecht sehr gut.«
»Danke.«
Angelica senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: »Ehrlich gesagt, benutze ich
erst Parfüm, seit ich schwanger bin. Man möchte in so einer Zeit doch zumindest
gut riechen, wenn man schon nicht gut aussehen kann.«
»Sie
sind schwanger?«, entfuhr es Violet, bevor sie es verhindern konnte.
»Also,
jetzt schmeicheln Sie mir aber zu sehr! Mein Bauch hat ungefähr die Größe des
Buckingham Palace!« Angelica lachte fröhlich, und das beruhigte Violet. Sie
hatte heute eben einfach kein Glück. Und wieso sollte sie dieser netten Frau
nicht verraten, dass sie blind war? Was soll's, dachte sie achselzuckend.
»Ich
wollte Ihnen kein falsches Kompliment machen«, erklärte sie. »Ich habe nicht
gesehen, dass Sie schwanger sind, weil ich blind bin.«
Die
nun folgende Stille war nur natürlich, aber Violet war trotzdem ein bisschen
enttäuscht. Angelica schien so nett zu sein und auch sehr lustig.
»Der
Mann zwei Reihen vor uns hat den längsten Schnurrbart, den ich je gesehen habe.
Es ist also nicht weiter überraschend, dass von einem Ende eine bräunliche
Flüssigkeit tropft; aller Wahrscheinlichkeit nach sein Afternoon-Tea.«
Violet
musste lachen und beugte sich unwillkürlich näher zu Angelica.
»Und
der Mann davor hat einen unglaublich hohen Zylinder auf. Das arme Walross mit
dem Teebart muss sich ständig von der einen auf die andere Seite beugen, um an
ihm vorbei zur Bühne sehen zu können.« Violet konnte es klar vor sich sehen und
lachte entzückt auf. »Danke«, sagte sie kurz darauf, wieder ernst geworden.
»Wofür?«
»Dass
Sie mich nicht für blöd halten.«
Zu
Violets Überraschung ergriff Angelica ihre Hand.
»Sie
müssen den Leuten ihre Ignoranz verzeihen.«
Bevor
Violet etwas sagen konnte, hatte die andere ihre Hand schon wieder losgelassen.
»Daniel? Was machen Sie hier?«
Violet
neigte schnuppernd den Kopf zur Seite. Ein Bluttrinker! Sie verkrampfte sich
unwillkürlich, wie immer, wenn sie einen von ihnen witterte.
»Tut
mir schrecklich leid, Sie stören zu müssen, Prinzessin. Patrick schickt mich.«
Prinzessin ? Violet konnte gerade noch verhindern, dass ihr die
Kinnlade herunterklappte. Einen Moment später berührte Angelica abermals ihre
Hand.
»Violet,
darf ich Ihnen Lord Trace vorstellen? Daniel, das ist Violet.«
Violet
war in all ihrer Zeit bei den Zigeunern nie einem Aristokraten begegnet. Ihre
Mutter war zwar eine Lady gewesen - besser gesagt, sie war es immer noch -,
aber das wollte nicht viel heißen. Violet hatte keine Ahnung, was jetzt von ihr
erwartet wurde. Normalerweise hätten sie solche Dinge nicht gekümmert, aber sie
mochte Angelica und wollte sie nicht unabsichtlich beleidigen.
»Miss
Violet«, sagte Daniel, und nun, da er sich ihr zuwandte, konnte Violet noch
deutlicher den Blutgeruch in seinem Atem wahrnehmen. Und sein
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