Unsterbliches Verlangen
Ordnung wäre, wie viel Zeit sie allein mit Chapel verbrachte. Was auch der Grund sein mochte, es war schön, sie hier zu haben. Pru war gern mit ihnen zusammen, solange es ihr noch vergönnt war. Entsprechend verbrachte sie die Tagesstunden, die sie wach war, mit ihren Schwestern und ihrem Vater. Die Nächte gehörten Chapel.
Das war naturgemäß recht anstrengend, doch hatte sie nicht vor, daran etwas zu ändern.
Heute allerdings quälte sie sich geradezu aus dem Bett. Am liebsten wollte sie liegenbleiben und immer wieder wegdämmern. Würde sie einen kleinen Schluck ihres Schmerzmittels nehmen, könnte sie es wohl auch. Ein wenig zusätzliche Ruhe täte ihr vielleicht gut, nur verpasste sie dann den Tag mit ihren Schwestern und womöglich noch einen Teil der Nacht mit Chapel, und das konnte sie nicht zulassen. Sie würde noch genug Zeit im Bett verbringen, wenn der Krebs erst siegte.
Noch aber hatte er nicht endgültig gewonnen.
Ja, sie würde sterben. Für sie gab es keinen Heiligen Gral und hatte ihn eventuell nie gegeben. Sie und Marcus waren auf den Silberhandorden hereingefallen, der sie bloß hatte benutzen wollen.
Sie jagten keinen Wundern mehr nach, denn auch die hatten ihren Preis, wie man an Chapel sah. Ihm waren Unsterblichkeit, außergewöhnliche Fähigkeiten und Jugend geschenkt worden, und dennoch betrachtete er all das als Fluch, weil der Preis war, dass er sich von Menschen nähren musste. Einerseits fand sie diesen Umstand nicht minder abstoßend als er, andererseits jedoch erinnerte sie sich, wie köstlich sein Mund sich an ihrem Hals angefühlt hatte.
Offensichtlich war es für ihn ebenso genüsslich gewesen, ihr Blut zu trinken, wie für sie, es ihm zu geben. Was war daran eine Sünde? Sie könnte sich vorstellen, selbst Blut zu trinken, wenn es sich jedes Mal so gut anfühlte.
Sie könnte sich vorstellen, wie Chapel zu sein, imstande zu sein, die Dinge zu tun, die er tun konnte. Das einzig Traurige wäre, dass sie ihre Familie sterben sähe.
Und das wäre ein unglaublich hoher Preis.
Den jedoch eine Ewigkeit mit Chapel durchaus wert war, wie ihr eine kleine Stimme einflüsterte. Solange sie zusammen waren, konnte sie alles ertragen.
Das stimmte natürlich nicht. Es konnte gar nicht stimmen. Sie war nun einmal keine hoffnungslose Romantikerin, auch wenn es sich hübsch anhörte und sie sich sehr wohl vorstellen konnte, die nächsten vierhundert Jahre oder so mit ihm zusammen eine sich ständig verändernde Welt zu erkunden. Gewiss gäbe es Momente, in denen ihr die Sonne fehlen oder sie ihn würde umbringen wollen, dennoch entbehrte die Idee nicht eines besonderen Reizes.
Nur leider war sie nutzlos, und so verdrängte sie diese Gedanken und läutete nach ihrer Zofe. Es war schon fast Mittag, und sie sollte mit ihren Schwestern essen.
Ihre Zofe kam und half ihr beim Ankleiden und Frisieren. Frisch gewaschen und in ein blassrosa Kleid gewandet, fühlte Pru sich sogleich besser. Sie ging hinunter ins Speisezimmer, wo ihre Schwestern bereits um den Tisch herum saßen.
»Ich dachte schon, wir müssen dich holen kommen«, sagte Matilda scherzhaft, als Pru sich setzte. »Das kommt davon, wenn man erst bei Tagesanbruch schlafen geht!«
Pru ging erst bei Tagesanbruch schlafen, weil sie bis dahin entweder in einem anderen Landesteil war oder sich mit Chapel sinnlichen Erlebnissen hingab oder beides, was sie ihren Schwestern jedoch nicht auf die Nase binden würde. Sie würden sich höchstens Sorgen machen, wenn sie erfuhren, dass sie sich des Nachts herumtrieb, und vor allem würden sie behaupten, dass Chapel sie schamlos ausnutzte.
» Ja, es ist wohl allein meine Schuld, dass ich zu spät bin.« Pru lächelte ihre Schwestern an. »Tut mir leid, dass ich euch warten ließ.«
» Papperlapapp!«, erwiderte Caroline. »Wir sind selbst erst eben gekommen. Achte gar nicht auf das, was Mattie sagt. Sie ist schnell ein bisschen reizbar, wenn sie Hunger hat.«
Sie alle lachten und machten sich über die kalten Fleischpasteten, die Salate, das Brot und den Käse auf dem Tisch her.
»Du siehst müde aus, Pru«, bemerkte Georgiana, die sich gerade eine Scheibe Schinken auf den Teller legte. »Geht es dir nicht gut?«
Drei Paar unterschiedlich grüne Augen richteten sich sorgenvoll auf sie.
Doch Pru schüttelte den Kopf. »Ich war nur lange auf, wie Mattie bereits mutmaßte.« Sie würde ihnen nicht sagen, dass sie fühlte, wie sich ihr Zustand rapide verschlechterte. Es war beinahe, als könnte
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