Unsterbliches Verlangen
töten.
Kapitel 6
Das Abendessen war eine qualvolle Angelegenheit. Zwar genoss Chapel jeden Bissen des Mahls, aber die Menschen um ihn herum regten seinen Appetit weit mehr an. Und das beschämte ihn über die Maßen, denn immerhin hatte er manche von ihnen inzwischen kennengelernt und mochte sie. Vor dem Essen hatte Molyneux ihm ein kleines Röhrchen seines Bluts gegeben, das er sich in seinen Wein schütten könnte. Doch bisher war es Chapel noch nicht möglich gewesen.
»Wie lange leben Sie schon in Paris, Mr. Chapel?«
Die Frage kam von Pru. Molyneux hatte recht gehabt: Sie sah wohlauf aus, und dafür war Chapel dankbar. Leider war es ihre Anwesenheit, die ihn am allermeisten quälte, da ihr süßer warmer Duft seine Reißzähne jucken ließ.
Seit ungefähr sechshundert Jahren, bis auf ein paar Jahrzehnte hier und da. Das konnte er ihr schlecht antworten. »Mir kommt es vor, als lebte ich schon ewig dort, Miss Ryland.«
Ihre Schwester Matilda, die mit ihrem Ehemann hier war, lächelte verträumt. Sie war eine liebreizende Frau mit rotblondem Haar, braunen Augen und Sommersprossen auf der Nase.
»Frederick und ich waren letzten Sommer in Paris. Ich liebe die Cafés dort. Und ich wurde so fett!«
Alle am Tisch lachten, also tat Chapel es ebenfalls.
»Gewiss finden Sie unser kleines Dorf sehr rustikal, verglichen mit Paris, Mr. Chapel.«
Er sah wieder zu Pru. Gott, sie war ein entzückendes kleines Ding! Würde sie ein paar Wochen zu viel Kuchen essen, wäre sie wunderbar weich in seinen Händen - und zerginge ihm auf der Zunge.
Er musste Molyneux' Röhrchen in seinen Wein bekommen, sonst fing er noch an, wie ein verdammter Hund zu hecheln oder, noch schlimmer, wie ein Werwolf, was für eine widerliche Kreatur!
»Ich finde diesen Ort sehr charmant. Verzeihen Sie, ich scheine meine Serviette fallengelassen zu haben.«
Unter dem Vorwand, das weiße Leinen wieder aufheben zu wollen, schraubte er unter dem Tisch das Röhrchen auf und stürzte den Inhalt in einem hastigen Schluck hinunter. Dann steckte er das Röhrchen wieder ein und richtete sich auf.
Niemand achtete auf ihn, was ihn nicht bloß seltsam dünkte, sondern ein wenig schockierte. Seit ihrer Ankunft waren Molyneux und er wie Kuriosa behandelt worden. Andererseits war es doch erfreulich, dass sie endlich nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.
Außerdem bekam er so die Möglichkeit, die anderen ein bisschen zu beobachten.
Prudence saß ihm gegenüber, drei Stühle weiter rechts. Ihr flammendes Haar war zu einem eleganten Knoten aufgesteckt. Mithin konnte er ihr fein geschnittenes Gesicht in Gänze bewundern. Das warme Licht und das leuchtende Violett ihres Kleides verliehen ihren Wangen eine zarte Röte und ihren grünbraunen Augen einen schönen Glanz. Im Laufe seiner langen, langen Existenz musste er gewiss ähnlich liebreizende Frauen gesehen haben, doch er konnte sich keiner entsinnen.
»Mr. Chapel?«, sprach Prudences Vater ihn an.
Verdammt! Wahrscheinlich wollte er ihn dafür grillen, dass er seine Tochter anstarrte wie ein Hund einen Knochen.
»Ja, Sir?«
Thomas Ryland verzog das Gesicht. »Bitte, nennen Sie mich beim Vornamen. Bei >Sir< muss ich immer an den Direktor meiner alten Schule denken, und ich konnte den Mann nicht ausstehen.«
Chapel lächelte - in den letzten Tagen lächelte er überhaupt erstaunlich oft. »Sehr wohl, aber nur wenn Sie mich schlicht Chapel nennen.«
»Ich wollte Sie schon danach fragen, Mr. Chapel«, sagte Prudence und hob ihr Weinglas an ihre bereits leicht feuchten Lippen.
Er lüpfte eine Braue. »Nach meinem Namen?«
Sie tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab. »Ja. Vergeben Sie mir meine Impertinenz, aber wie kamen Sie dazu, einfach >Chapel< zu heißen?«
Alle Augen richteten sich nun wieder auf ihn, als hätten sie alle dasselbe fragen wollen - das heißt, alle bis auf Molyneux.
»Es ist mir eine Ehre, Ihre Neugier zu befriedigen, Miss Ryland. Ich war ein Findelkind und wurde auf den Stufen einer Kapelle gefunden. Deshalb nannten mich die guten Pater so, die sich meiner annahmen.« Das war nicht einmal gelogen. Er ließ lediglich aus, dass er zur fraglichen Zeit bereits ein erwachsener Mann gewesen war und es Jahrhunderte zurücklag.
Sowohl Caroline also auch Matilda sahen ihn voller Mitgefühl an, und ihnen war sichtlich unbehaglich, denn nun glaubten sie sicher, dass er ein unerwünschtes Kind der Liebe war. Da das jedoch der Wahrheit allemal vorzuziehen war, nahm er
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