Unter allen Beeten ist Ruh
erschien in Begleitung eines jungen Mannes, der in seinem dunklen Anzug ein wenig wie ein Konfirmand aussah. Bei seinem Anblick sprang Lutz Erdmann empört auf und sagte scharf: »Was hast du hier zu suchen? Verschwinde!«
»Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein wie jeder andere«, erwiderte der junge Mann und setzte sich mit Nante in die zweite Stuhlreihe, ohne Lutz eines weiteren Blicks oder Wortes zu würdigen.
Pippa reckte neugierig den Hals, aber sie konnte nicht erkennen, um wen es sich bei Nantes Begleiter handelte, da sie die beiden nur von hinten sehen konnte. Immer, wenn der junge Mann den Kopf bewegte, verdeckte ihr einer der anderen Trauergäste die Sicht.
Punkt zehn Uhr trat Viktor Hauser an das Rednerpult, und das leise Gemurmel der übrigen Gäste verstummte.
Viktor räusperte sich und sagte: »Liebe Freunde, an einem strahlenden Tag wie diesem zeigen sich Schreberwerder, die umliegenden Inseln und die Havel von ihrer besten Seite, um gemeinsam mit euch unserer geliebten Freundin Dorabella das letzte Geleit zum Friedhof Heiligensee zu geben. Da Dora keine Verwandten hat, sind und waren wir alle nur zu gerne ihre Familie. Sie war uns allen eine Freundin, Vertraute, Seelentrösterin und Gefährtin. Den Kindern war sie eine liebevolle Ersatzoma, die immer einen Keks und eine Tasse Kakao für ihre kleinen Besucher hatte und der sie auf wundersame Weise besser gehorchten als den eigenen Eltern …«
Pippa legte den Arm um Sven, als der Junge neben ihr zu weinen begann, und zog ihn sanft an sich. Seit ihrem vertraulichen Gespräch hatte er sich zwar deutlich erholt, aber Schock und Verwirrung waren ihm nach wie vor anzumerken.
Schräg vor ihnen nahmen Lutz Erdmann und Angelika Christ geräuschvoll Platz. Erdmann trug einen demonstrativ gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau. Er polierte sich auffällig die Fingernägel, während Viktor seine Rede beendete und abschließend sagte: »Jeder, der möchte, kann jetzt etwas sagen.«
Viktor trat vom Pult zurück, verbeugte sich vor dem Sarg und ging zurück an seinen Platz in der ersten Reihe.
Nach kurzem Zögern erhob sich Luis und ging nach vorne. Sein Gesicht war eingefallen und blass. Er sah lange den Sarg an, bevor er zu sprechen begann: »Dorabella … Niemand, der dir jemals begegnet ist, hätte dich nicht lieben können …«
Zu Pippas Bestürzung stieß Lutz Erdmann bei diesen Worten ein leises, höhnisches »Tss!« aus.
Karin, die direkt hinter ihm saß, beugte sich vor und zischte »Mistkerl!« in sein Ohr.
Erdmann wurde dunkelrot und wandte sich wütend in Karins Richtung.
»Das hat ein Nachspiel, Schmutz-Lutz«, flüsterte Karin noch. »Versprochen.«
Erdmann zuckte mit den Schultern. Grinsend drehte er sich zu Angelika Christ um und begann mit ihr zu tuscheln.
Luis trat an den Sarg und legte seine Hand auf das dunkel polierte Holz. Tränen liefen ihm über die stoppeligen Wangen, als er zu seinem Platz zurückkehrte und Herrn X zunickte, der sich sofort erhob und zum Pult ging.
»Ich möchte über Dorabella sprechen, die mir eine echte Freundin war …«, begann er, aber dann versagte seine Stimme. Er starrte fassungslos auf den Sarg, als würde er in diesem Moment erst begreifen, was geschehen war. Hilflos sah er Luis an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schüttelte den Kopf. Luis sprang auf und führte Herrn X zu seinem Stuhl zurück.
Niemand sagte etwas.
Plötzlich erhob sich Lutz Erdmann, strich sein Leinensakko glatt und sagte: »Dann werde ich mal, schließlich bin ich hier so etwas wie …«
»So etwas wie was bitte?«, zischte Karin aufgebracht. »Wofür hältst du dich? Für den König von Schreberwerder, der zu seinen devoten Untertanen spricht?«
Sie machte Anstalten, aufzuspringen und ihn aufzuhalten, aber Sven hielt sie am Ärmel fest.
»Lass doch, Mama«, flüsterte er und sah sie flehend an.
Widerstrebend sank sie zurück auf ihren Stuhl.
Lutz Erdmann hatte am Pult Position bezogen, streifte Karin mit einem hochmütigen Blick und deklamierte salbungsvoll: »Wir nehmen Abschied von einer großen Frau, von einer Dame mit Stil und Geschmack, die von uns allen tief verehrt wurde. Wir werden sie sehr vermissen, ihren Humor, ihre Güte und ihr Verständnis. Sie hinterlässt eine Lücke in unserer Gemeinschaft, die nicht so schnell wieder geschlossen werden wird.«
»Bestimmt nicht durch dich!«, knurrte Matthias leise.
Lutz sah in die Reihen der Trauernden und fuhr fort: »Ich möchte die Gelegenheit
Weitere Kostenlose Bücher