Unter allen Beeten ist Ruh
Dorabellas Tod kein Unfall gewesen war, und hatte gute Argumente, die seine Theorie stützten.
Pippa zuckte zusammen, als das Signalhorn der Rieke ertönte. Die Fähre löste sich vom Steg und drehte bei. Langsam nahm das Schiff Fahrt auf und tuckerte die Havel entlang, flankiert von einigen Privatbooten, die Dorabella von Schlittwitz zum idyllischen Friedhof an der Havel geleiten wollten.
Pippa sah der ungewöhnlichen Prozession lange nach. Wenn die Gondeln Trauer tragen, dachte sie und schluckte nicht nur, weil sie Dorabella gemocht hatte, sondern weil ihr bei jeder Gelegenheit Italien einfiel und es immer noch schmerzte.
Sie nahm Emils Hand, und sie gingen schweigend zur Parzelle 8, wo die anderen Kästner-Kinder im Garten spielten. Plötzlich glaubte sie, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunmehmen. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Sie begann tatsächlich, Gespenster zu sehen.
Pippa atmete tief durch.
Gegen Angst und Unfrieden half nur eines: Aufklärung. Und wenn es niemand anders tat, dann würde sie selbst beweisen, dass Dorabellas Tod einfach ein Unglücksfall gewesen sein musste. Auf Schreberwerder, in dieser abgelegenen Idylle, gab es keinen Grund für Mord.
Oder etwa doch?
Als Gerdi Kästner von der Beisetzung zurückkehrte und die Kinder wieder übernahm, ging Pippa zu Luis’ Parzelle, wo sich alle Insulaner treffen wollten, um noch ein wenig beisammenzusitzen.
Beinahe alle Stühle waren besetzt, und leises Murmeln erfüllte den Raum. Karin schenkte Kaffee aus, Luis stand an der Bar und mixte Getränke. Zu ihrer Überraschung sah Pippa Lutz Erdmann und Angelika Christ, die mit Heinz Marthaler in einer Ecke des Raumes standen und miteinander redeten.
»Pippa! Wir sind hier!«
Karin winkte und deutete auf zwei leere Stühle am Tisch, an dem Herr X, Stephan Kästner, Nante und Viktor bereits Platz genommen hatten.
Pippa ging hinüber. »Wie geht es euch?«
Nante antwortete: »Es war eine schöne Beisetzung, wirklich. Auf Dorabella.«
»Auf Dorabella«, murmelten die Männer im Chor und tranken ihren Schnaps auf ex.
»Luis – Nachschub!« Viktor winkte, und Luis kam sofort, um nachzufüllen.
»Pippa, du auch.« Viktor schob ihr ein gefülltes Glas hin.
Pippa wusste, dass es wenig Sinn hatte, sich zu wehren. An diesem Tag würde noch so mancher Toast auf Dorabellas Wohl ausgebracht werden.
Langsam wurde die Stimmung gelöster. Die Runde überbot sich in Anekdoten über Dorabella, und schließlich wurde sogar herzlich gelacht. Viktor erzählte gerade eine fröhliche Geschichte über eine Reise, die er vor Jahren zusammen mit Dora unternommen hatte, als Lutz Erdmann an sein Glas klopfte und um Aufmerksamkeit bat.
»Wat will der denn schon wieda?«, murrte Luis.
»Warten wir es ab«, sagte Viktor und drehte seinen Stuhl herum, damit er Lutz besser sehen konnte. Nach und nach verstummten alle Gespräche im Raum.
»Liebe Freunde, ich habe eine Mitteilung zu machen, die uns alle betrifft«, verkündete Lutz Erdmann und sah in die Runde. Dann fuhr er fort: »Es geht um Schreberwerder. Durch Dorabellas Tod ist Nante nun leider nicht mehr in der Lage, mein Angebot an die Familie Peschmann zu überbieten, das ich hiermit wiederholen möchte. Allerdings reduziere ich mein Angebot unter den gegebenen Umständen um fünftausend Euro – und auch für alle anderen Parzellen auf Schreberwerder hat sich das Angebot auf zwanzigtausend verringert. Überlegen Sie es sich, meine Herrschaften, ehe es noch weniger wird.«
»Du wirst Schreberwerder niemals kriegen! Dat werde ick vahindern! Nur über meene Leiche«, schrie Luis wütend.
Er sprang auf und schüttelte die Faust.
Lutz lächelte siegesgewiss. »Nun, das werden wir sehen, oder? Mir gehört praktisch schon die halbe Insel – mit meiner Parzelle und der von Frau Christ …«, er verbeugte sich in Angelikas Richtung, die tief errötete, »… außerdem gehe ich davon aus, dass Familie Peschmann und ich uns unter diesen Umständen schnell einig werden …«, Erdmann machte eine Kunstpause, »… zumal Dorabella mir ihre wunderschöne Parzelle 4 selbst vererbt hat.«
Sofort brach ein Tumult los. Alle schrien durcheinander, aber Lutz blieb völlig ruhig und zog einen Briefumschlag aus der Sakkotasche, den er über seinem Kopf schwenkte.
»Hier habe ich ihr Testament«, rief er in die aufgebrachte Runde, »hier steht es schwarz auf weiß! Ich vererbe dem Sohn meines lieben Freundes Bernhard Erdmann, Lutz Erdmann, meine geliebte Parzelle 4, um
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