Unter deinem Stern
Eigentlich hätte man bei ihr eine grüne Nase erwartet, mit einer dicken, haarigen Warze auf der Spitze.
»Nein!«, erwiderte Simon und klappte das Buch zu. »Es gibt kein Problem.«
Die alte Hexe musterte erst ihn, dann die junge Frau von oben bis unten. Schließlich zog sie sich hinter die Kasse zurück.
Simon schaute die junge Frau an. »Hier«, sagte er. »Nehmen Sie es. Ich kann es mir nicht leisten.«
»Ganz bestimmt?«
Er nickte lächelnd, und sie erwiderte sein Lächeln.
»Danke«, sagte sie, griff nach dem Buch und ging zur Kasse.
Simon schaute fasziniert zu, als die alte Hexe, die offenbar nichts verkommen ließ, Judy Garland in eine seiner alten Plastiktüten steckte.
Im nächsten Augenblick war die Mondscheinfrau auch schon verschwunden.
Simons Herz raste. Sie ist weg, du Trottel! ,schien es zu rufen. Los, geh ihr nach. Wie oft triffst du in Whitby auf eine solche Frau? Willst du sie wirklich einfach so ziehen lassen?
»Nein!«, sagte er laut, eilte aus dem Laden und schlug die Richtung ein, in der sie verschwunden war.
Ohne darüber nachzudenken, was er ihr sagen wollte, begann er zu laufen. Er konnte sie nicht einfach so ziehen lassen. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Er musste ihn erfahren. Er musste -#
»Simon?«, hörte er eine Stimme rufen. »Simon!«
Simon blieb stehen. Da, auf der anderen Straßenseite, stand die alte Mrs Jamieson: ausgerechnet die Frau, der Simon in diesem Augenblick am allerwenigsten begegnen wollte. Die Mrs Jamiesons dieser Welt sind nicht die schlechtesten Menschen. Sie sind nett, sie sind höflich, sie machen einem im Handumdrehen eine Tasse Tee und frische Scones, aber sie reden einfach zu viel.
»Dachte ich’s mir doch, dass Sie das sind, Simon«, flötete sie, während sie die Straße überquerte.
»Tag, Mrs Jamieson. Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Simon zaghaft.
»Nun, da Sie mich fragen –«
Von da an war sie nicht mehr zu bremsen. Simon starrte in die Richtung, die die Mondscheinfrau eingeschlagen hatte, während er Fetzen von Mrs Jamiesons Bericht über ihre Krampfadern und ihre bevorstehende Hüftoperation aufschnappte. Die junge Frau war immer noch zu sehen, sie blieb gerade stehen, um etwas in einem Schaufenster näher zu betrachten.
»Mrs Jamieson, ich muss leider –«
»Ich habe mir gesagt, Simon, dieser nette junge Mann, ist bestimmt in der Lage, dieses kleine Problem für mich zu lösen. Das sind Sie doch, nicht wahr?«
»Äh – ja, selbstverständlich«, sagte er, ohne sich recht darüber im Klaren zu sein, worauf er sich da einließ. Er wusste nur, dass er jetzt gehen musste, auch wenn es bedeutete, dass er sich gerade dazu verpflichtete, ein Jahr lang in Mrs Jamiesons entsetzlich zugewuchertem Garten zu arbeiten.
»Das ist aber nett von Ihnen. Dann mache ich Ihnen einen schönen, heißen Tee. Wir können doch den ganzen Nachmittag zusammen verbringen, oder?«
»Ja, ja, sicher, machen wir.«
»Also, falls Sie gerade nichts Wichtiges zu tun haben –«, insistierte sie.
»Eigentlich wollte ich –«
»Ich glaube nämlich, dass das nicht mehr lange warten kann. Außerdem könnten Sie mir meine Einkaufstaschen tragen«, sagte sie. »Ach, Sie sind so ein netter Mensch.«
Simon blickte die Straße hinunter. Die Mondscheinfrau war fast nicht mehr zu sehen.
Er drehte sich nach Mrs Jamieson um, deren kleine Hände die vollen Einkaufstaschen kaum noch halten konnten.
»Selbstverständlich helfe ich Ihnen«, sagte er, während er einen letzten Blick auf die Mondscheinfrau warf, die gerade, seine Einkaufstüte in der Hand, um eine Ecke verschwand.
7
Am nächsten Morgen kam Claudie beschwingt ins Büro. Heute war der große Tag. Jalisa hatte ihr versprochen, ihr die anderen Engel vorzustellen.
Wo würden sie sie erwarten? Würde Jalisa wie üblich in dem großen Ficus hocken, oder würde sie sich für die erste Begegnung einen geeigneteren Platz aussuchen? Und wer würden sie sein? Das konnte Claudie sich am wenigsten vorstellen. Jalisa hatte gesagt, sie seien ein wild zusammengewürfelter Haufen, doch was genau hatte sie damit gemeint? Claudie wusste nicht einmal, ob sie mit Männern oder Frauen oder einer gemischten Gruppe rechnen musste und ob es sich um moderne Engel oder um Engel aus früheren Zeiten handeln würde. Sie lächelte wehmütig. Nicht auszudenken, wenn plötzlich Gene Kelly auf ihrem Schreibtisch stünde.
Sie war schrecklich aufgeregt, aber als sie auf ihren Schreibtisch zuging, stellte sie enttäuscht fest,
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