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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Connelly
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schaute sie ernst an.
    Claudie ließ die Schultern sinken. »In Ordnung«, sagte sie leise. »Ich verspreche es.«
    »Weißt du«, sagte Mr Woo, »Zorn ist das schwierigste aller Gefühle.«
    »Haben Sie das in der Engelschule gelernt?«
    »Nein, im Leben.«
    Claudie lächelte zaghaft. »Vor ein paar Tagen habe ich einen kleinen Jungen auf der Straße gesehen, der geschrien hat wie am Spieß«, sagte sie. »Er stand einfach da und brüllte. Seine Mutter wusste gar nicht, was sie mit ihm machen sollte, und alle starrten die beiden an. Wissen Sie, was ich da gedacht habe? Ich fand, was der Junge tat, war das Natürlichste auf der Welt, und ich habe ihn darum beneidet, dass er es fertig bringt, sich mitten auf die Straße zu stellen und alles herauszuschreien, all seine unterdrückten Gefühle, ohne sich darum zu scheren, wer ihm dabei zusieht.«
    »Erwachsene zeigen ihre Gefühle nicht so freimütig«, sagte Mr Woo.
    »Warum nicht? Wie kommt das? Wann bringen Erwachsene den Kindern bei, dass sie sich zusammenreißen und alles runterschlucken sollen? Das ist doch unnatürlich. Stellen Sie sich mal vor, Erwachsene würden von den Kindern lernen. Dann würden alle erst mal losheulen.«
    »Die beste Medizin der Welt.«
    Claudie schaute ihn an. »Bert hat gesagt, Lachen sei die beste Medizin.«
    »Das ist einer der Gründe, warum wir nicht miteinander auskommen«, sagte Mr Woo, doch Claudie meinte ein schelmisches Funkeln in seinen Augen zu sehen.
    »Du hast jedenfalls nicht auf der Straße geschrien?«
    Claudie stützte ihren Kopf in die Hände. »Anfangs war mir danach«, sagte sie. »Ich glaube, die Leute haben es sogar von mir erwartet. Es war furchtbar. Alle behandelten mich wie einen Dampfdrucktopf, der kurz vorm Explodieren steht. Aber das Bewusstsein, dass man so etwas nicht tut, sitzt zu tief.« Sie überlegte. »Am liebsten hätte ich auch gebrüllt wie am Spieß.« Sie lachte kurz auf. »Wissen Sie was? Luke hat mal mit mir schreien geübt.«
    Mr Woo kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief.
    »Wir waren im Lake District auf einen Berg geklettert, und er wollte nicht umkehren, ehe wir uns nicht auf dem Gipfel die Kehle aus dem Leib geschrien hatten.« Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. »Er war immer ein bisschen verrückt.«
    »Hast du denn für ihn geschrien?«
    Claudie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund. »Ja, und wie!« Sie sah Mr Woo traurig an. »Ich habe geschrien: Ich liebe dich\«
    Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach. Es war, als versuchten sie, in die Vergangenheit zurückzugelangen, weil die Gegenwart zu sehr schmerzte.
    Schließlich brach Claudie das Schweigen. »Ich weiß, dass ich das wahrscheinlich nicht fragen darf, aber was vermissen Sie am meisten?«
    Die Frage schien Mr Woo zu verblüffen.
    »Wenn Sie nur eins nennen dürften. Außer Ihrer Frau natürlich.«
    Der Engel schürzte die Lippen und rieb sich die Knie. Dann lachte er leise in sich hinein.
    »Ach bitte, sagen Sie’s mir!«
    »Ich vermisse Mandelgelee. Und Kuchen.«
    »Kuchen? Wirklich?«
    »Ja!« Er lachte laut und herzhaft. »Im Himmel gibt es keinen Kuchen.«
    »Nein?«
    »Ich weiß, was Sie denken. Sie denken, im Himmel bekommt jeder seine Lieblingsspeise, doch das stimmt nicht. Wir bekommen Salat und Reis und dunkles Brot zu essen. Das ist nicht fair, wenn man sich schon im irdischen Leben gesund ernährt hat. Aber es heißt, eine schlechte Verdauung und hohe Cholesterinwerte sind ungesund für Engel.«
    »Wahrscheinlich.« Bei der Vorstellung, dass Engel an Verstopfung leiden konnten, musste Claudie schmunzeln. »Sie würden uns also raten, unser Essen zu genießen, solange wir hier sind?«
    »In Maßen, ja.«
    Sie lachten beide, dann waren sie wieder still, und nur das ferne Läuten von Kirchenglocken war zu hören.
    »Ich gehe jetzt lieber«, sagte Claudie. »Es ist schon spät.« Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
    »Claudie?« Mr Woos Stimme klang besorgt.
    »Ja?«
    »Soll ich dich begleiten?«
    Sie schaute ihn an. Meinte er das ernst? »Dürfen Sie das denn? Ich dachte, das sei Ihnen verboten.«
    Er wirkte leicht verlegen. »Das habe ich nicht gefragt. Soll ich dich begleiten?«, wiederholte er.
    Claudie dachte an ihren einsamen Heimweg durch die dunklen Straßen. Sie versuchte sich auszumalen, wie es sein würde, wenn Mr Woo mit zu ihr nach Hause käme. Würde er sich gemütlich auf ihre Schulter setzen und sich den ganzen Abend mit ihr zusammen Filme ansehen? Irgendwie konnte

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