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Unter deinem Stern

Unter deinem Stern

Titel: Unter deinem Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Connelly
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Vertrautes, wenn man an der Küste von Yorkshire lebt, dachte sie. Sie öffnete die Tür und war überrascht, dass es nicht so kalt war, wie sie erwartet hatte. Vielleicht war es die Aufregung, die sie wärmte, als sie im Laufschritt in Richtung Büro eilte.
    Es war fast halb neun, die Putzfrauen müssten also schon weg sein. Tatsächlich war niemand weit und breit zu sehen, und es war ganz einfach, sich unbemerkt dem Hintereingang des Gebäudes zu nähern und den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
    Als sie den Schlüssel umdrehte, überlegte sie flüchtig, was sie tun würde, falls das Schloss ausgewechselt worden war. Aber nein, die Tür ließ sich mühelos öffnen. Sie trat ein und atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass sie keinen Alarm ausgelöst hatte.
    Sie kam sich vor wie eine Diebin, als sie durch die leeren Flure und das dunkle Treppenhaus schlich, doch sie wollte kein Licht einschalten. Im Grunde machte ihr die Heimlichtuerei sogar Spaß.
    Die nächtliche Dunkelheit verlieh allem beinahe etwas Bedrohliches. Das Kopiergerät sah aus wie ein seltsames, schlafendes Ungeheuer, und die leeren Schreibtische wirkten ziemlich verloren.
    Würden die Engel kommen? Waren sie auch nachts einsatzbereit, oder arbeiteten sie von neun bis fünf wie alle normalen Leute? Vielleicht gab es ja Pubs und Nachtclubs für Engel, wo sie sich nach Feierabend herumtrieben. Hatten die Zwillinge nicht davon gesprochen, dass sie am Wochenende auf Partys gingen? Daran hatte Claudie in ihrer Aufregung gar nicht gedacht, als ein Adrenalinstoß sie dazu getrieben hatte, ins Büro einzubrechen.
    Ängstlich ging sie auf ihren vom Schein einer Straßenlaterne schwach beleuchteten Schreibtisch zu. Ihre Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt, und sie suchte angestrengt zwischen den ihr vertrauten Gerätschaften nach ihren Freunden.
    Plötzlich wurde sie von Panik ergriffen. Was, wenn sie sich das alles nur eingebildet hatte? Was war, wenn die Engel nichts als Ausgeburten ihrer blühenden Fantasie waren und in Wirklichkeit gar nicht existierten? So, wie sie hier mitten in der Nacht in ihrem dunklen Büro herumschlich, konnte man wirklich annehmen, dass sie völlig durchgedreht war.
    Atemlos und mit rasendem Herzen hielt sie inne. Es gab doch eigentlich gar keine Engel! Ihre Fantasie hatte ihr ja schon alle möglichen Streiche gespielt, und Schuld daran war ihre Musicalsucht.
    Dennoch waren sie ihr so real vorgekommen. Claudie biss sich so fest auf die Lippe, dass sie beinahe blutete. Es musste eine Erklärung für all das geben: Sie brauchte Hilfe, und zwar so dringend, dass sie sich fünf verschiedene Helferpersönlichkeiten ausgedacht hatte. Nicht eine, sondern gleich fünf! War das nicht ein bisschen übertrieben? Was bildete sie sich eigentlich ein?
    Mit einem Mal war ihr alles klar. Jeder Engel repräsentierte einen ihrer Wesenszüge: Jalisa war die heimliche Tänzerin in ihr, Mr Woo stand für den vernünftigen Teil, Bert, na ja, Bert war der Witzemacher – der kleine Teil von ihr, der gern lachte, aber eine Zeit lang verschwunden gewesen war. Und die Zwillinge? Vielleicht waren sie einfach der Beweis dafür, dass Claudie tatsächlich verrückt geworden war.
    Offenbar brauchte sie Dr. Lynton viel dringender, als sie sich eingestehen wollte. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen einen Aktenschrank, spürte das dunkelgraue, kühle Metall in ihrem Rücken. Was machte sie nur hier? Sie konnte doch mit Kristen reden und sich Dr. Lynton öffnen. Warum hatte sie es nötig, sich fünf Miniengel auszudenken? Warum ausgerechnet Engel?
    Aber sie wusste, was der Kern des Problems war. Egal, wie viele Leute sich um sie bemühten, egal, wie viele Winzlinge sie sich ausdachte, niemand konnte den ersetzen, den sie verloren hatte. Noch so viele Engel, Freunde und Psychologen konnten die starken Arme nicht ersetzen, die sie gehalten hatten und die sie so geliebt hatte.
    Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. So sehr sie davon überzeugt war, dass sie nun endgültig den Verstand verloren hatte, sie brauchte einen Beweis. Sie riss sich vom sicheren Halt des Aktenschranks los und trat an ihren Schreibtisch.
    »Hallo?«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Ist jemand da?« Sie zog ihren Stuhl heran und setzte sich. »Jalisa? Lily? Irgendjemand da?« Sie saß reglos da und wartete mit angehaltenem Atem.
    »Claudie?«, hörte sie eine leise Stimme.
    »Mr Woo?« Claudie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, als

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