Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
eingeschifft, um gegen weniger als sechzigtausend Buren zu kämpfen. Dieser Krieg dauerte noch länger und war noch brutaler als der erste.
Die Afrikaander hatten keine offizielle Armee, doch sie waren seit zwei Jahrhunderten auf dem Kontinent ansässig und hatten das Land im Blut (von ihrem Blut im Land ganz zu schweigen). Sie brauchten weder Kasernen noch Uniformen und schon gar keine Generäle, die ihnen Befehle gaben. Sie hatten robuste Pferde, kräftige Männer und zähe Frauen. Ihre Kinder waren ausgezeichnete Schützen, zu Härte und Selbstgenügsamkeit erzogen. Dazu kam, dass die britischen Truppen unpraktische rote Uniformjacken trugen, die wie Warnlichter aus dem blonden Steppengras hervorleuchteten. Die Briten verstanden weder die Sprache dieses weiten, melancholischen Landes, noch liebten sie es. Also konnten sie diesen Krieg nur hintenherum gewinnen – indem sie die Afrikaander durch Hunger und Seuchen ausrotteten. Zwischen 1901 und 1902 brannten die Briten mehr als dreißigtausend ihrer Farmen nieder und steckten fast alle Frauen und Kinder in die ersten Konzentrationslager der Welt. Nicht weniger als neunundzwanzigtausend Buren starben unter entsetzlichen Bedingungen in diesen Lagern, dazu zwanzigtausend Schwarze, die man bei der Arbeit auf den Farmen der Buren aufgegriffen hatte. Als am 21. Mai 1902 in der Stadt Vereeniging ein Friedensvertrag unterschrieben wurde, hatten die Briten fast ein Viertel aller Buren getötet.
Flip Prinsloo war als Baby mit seinen Eltern und siebenundvierzig anderen Afrikaandern aus Transvaal nach Kenia gekommen. Die Familien waren größtenteils Bywoner (arme Pachtbauern ohne Hoffnung auf eine eigene Farm) oder Hensopper (Leute, die sich während des Burenkriegs den Briten ergeben hatten und jetzt mit der Schmach dieser Kapitulation leben mussten). Sowohl Bywoner als auch Hensopper wollten ein großes Gebiet freien, unbesetzten afrikanischen Landes, um sich dort niederzulassen. Aber um keinen Preis wollten sie um dieses Land kämpfen oder gar dafür sterben müssen – seit sie zurückdenken konnten, hatten sie nichts anderes getan. »Hier war Land für sie, und sie waren willkommen«, sagt Mum. »Niemand hatte sich dort ansiedeln wollen – zu windig und für den Geschmack der meisten Leute zu entlegen.«
Das Uasin-Gishu-Plateau, auf dem jetzt die Stadt Eldoret steht, war in vorkolonialer Zeit zuerst von den Sirikwa, dann von den Massai und schließlich den Nandi erobert worden. Mit anderen Worten, die Briten betrachteten es als »unbewohnt«, und diese gefühlte Leere war ihnen ein Dorn im Auge. Sie boten es den Zionisten an, als vorübergehende Zuflucht für russische Juden, bis in Palästina das neue Heimatland gegründet war. Aber die Zionisten lehnten das Angebot ab. Auf dem 6. Zionistischen Weltkongress im Jahre 1903 brachen einige von ihnen in Tränen aus und zitierten aus Psalm 137: »Wie sollten wir das Lied des Herren singen in fremden Landen? Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ich meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht dein gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.«
Und so kam es, dass die Briten das Land zähneknirschend den britenverachtenden Afrikaandern aus Transvaal anboten, 1908 trafen über zweihundert Buren auf einem Schiff in Mombasa ein. Eisenbahnzüge brachten sie nach Nakuru, wo sie von Eingeborenen Ochsen kauften und dazu abrichteten, die ganze lange Regenzeit hindurch – März, April und Mai – Wagen zu ziehen. Ende Mai machten sie sich auf den Anstieg aus dem Rift Valley hinauf in ihr neues Heimatland. Für hundert Meilen brauchten sie zwei Monate, die Wagen quälten sich durch Schlamm, der bis zum oberen Rand der Räder reichte, und dichte, an manchen Stellen unpassierbare Wälder. Die Trekker schnitten Bambusstangen, um Fahrbahnen über Sümpfe zu legen. Die Wagenlenker blieben nah bei ihren Tieren, trieben sie von einem schlitternden Schritt zum nächsten.
In einem Sumpfgebiet am oberen Ende des Anstiegs versank ein mit Zucker beladener Wagen bis zu den Achsen, und der Zucker schmolz in der Hitze. Während sich die Trecker tagelang mühten, den Wagen zu befreien, starb ein zweijähriges Mädchen an Lungenentzündung. Die jungen Männer rammten Pfähle ein, schufen provisorisch eine Stätte für das Begräbnis, und auf ihre stoische Weise, schweigsam, mit feuchten Augen, betrauerten die Afrikaander das Mädchen. Den Ort, an dem sie es begruben, nannten sie Suiker
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