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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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geschnappt.«
    »O nein, bist du verrückt? Nein, ich dachte, lass ihn mal machen, ich will mal sehen, was er dort unten alles treibt. Nein, ich wollte damit nichts zu schaffen haben. Und was für ein Glück, dass ich ihn mir nicht gleich zur Brust genommen habe. Sonst wüssten wir jetzt immer noch nicht, worauf er es eigentlich abgesehen hatte. Nun, er hat den Sand vom Sarg gefegt, er hat den Sarg geöffnet – na ja, nicht dass ich das hätte sehen können, aber so muss es gewesen sein –, und dann hat er dem Mann, den er gestern bestattet hat, die Kleider ausgezogen. Er hat die Kleider der Reihe nach ordentlich auf einen Sandhaufen neben das Grab gelegt und sich jedes Mal dabei aus der Grube heraus umgesehen, ob Gefahr im Verzug ist. Auf dem Gleis fuhr zwischendurch eine Diesellokomotive vorbei, da hat er sich zu Tode erschrocken. Anschließend hat er den Sarg wieder vorschriftsmäßig geschlossen und mit der Kuchendose meine Wälle nachgemacht. Tja, und dann ist er mit den Klamotten und seiner Kuchendose verschwunden.«
    Die Ringeltauben gurrten. Der Kleine Rohrsänger rief. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Draußen, an der Mauer des Bahrhäuschens, hatte er sein Fahrrad abgestellt. Ich habe ihn nie vorher auf einem Fahrrad gesehen.«
    »Und warum hast du ihn nicht festgehalten?«
    »Warum nicht? Warum hätte ich? Man weiß nie, wie so ein Irrer reagiert. Nein, dazu hatte ich überhaupt keine Lust. Ich bin heute Morgen gleich zu Groeneveld gegangen und habe ihm die ganze Geschichte erzählt. Und der hat dann um halb elf zusammen mit Moerman eine Hausdurchsuchung bei ihm gemacht. Und weißt du, was sie gefunden haben?«
    »Die Kleider«, sagte ich.
    »Auch«, erwiderte mein Vater, »ja, die auch. Aber du wirst es nicht glauben: Sie haben einen großen Kleiderschrank gefunden, und in dem Schrank hingen, ordentlich auf Bügeln, die Kleider aller Menschen, die er bestattet hat.
    »Von allen Menschen, die er bestattet hat?«, fragte ich total perplex. »Aber wieso denn?«
    »Als Andenken, hat er zu Groeneveld gesagt, er wollte von allen Menschen, die er bestattet hat, ein Andenken aufbewahren. Er finde es so schlimm, hat er zu Groeneveld gesagt, dass sie unter der Erde liegen, er wolle all seine Kunden gleichsam bei sich zu Hause haben. Und er hat außerdem zu Groeneveld gesagt, dass er es schön findet, dass die Leute hier von unter dem Deich, weil sie zu arm sind, um ein Totenhemd oder einen neuen Schlafanzug zu kaufen, in ihren eigenen alten, abgetragenen Sachen beerdigt würden.«
    »Woher wusste Groeneveld denn, dass das die Kleider der Menschen waren, die Hellenbroek bestattet hat?«
    »Er hatte die jeweilige Traueranzeige an den Metallhaken der Kleiderbügel befestigt. Groeneveld konnte bei jedem Anzug, Kleid, Pyjama oder Totenhemd sehen, wem es gehörte, denn … ja, man hält es wirklich nicht für möglich, aber an jedem Bügel hing tatsächlich die dazugehörige Traueranzeige. Es ist wirklich nicht zu glauben! Wenn er jetzt reiche Säcke beerdigt und es schade gefunden hätte, dass all die teuren Anzüge und Kleider unter der Erde verschwinden; aber es waren ja die Sachen von Leuten, die unter dem Deich gelebt haben! Tja, diesen Hellenbroek werden wir wohl nicht mehr wiedersehen. In Zukunft können wir abends in Ruhe essen. Und darüber bin ich froh, denn deine Mutter konnte den Mann auf den Tod nicht ausstehen.«

Immigration
    Was danach mit Hellenbroek geschah, entzog sich unserer Wahrnehmung. Wir hörten, dass er auf Bewährung verurteilt worden war. Die für unbewohnbar erklärte Wohnung in der Sandelijkstraat, die er als Büro benutzt hatte, stand nun leer, genau wie der daneben gelegene kleine Lagerschuppen, der als Trauerhalle gedient hatte. Die Grundstücke kaufte ein Immigrant, der von den Inseln kam. Einer seiner Söhne landete bei mir in der Klasse. Er litt an Asthma. Hustend, keuchend, pfeifend und japsend saß er, klein, schmächtig, ausgezehrter als wir anderen, unter dem Bild von der Schlacht bei Nieuwpoort. Am Sonntag sahen die Kirchgänger ihn und seine zwei Brüder auf dem Zuidvliet am Ufer sitzen. Es sah fast so aus, als würde er am heiligen Sonntag angeln! Das hatte man in der Stadt noch nicht erlebt, das verlangte nach Maßnahmen. Die Kirchgänger schlichen sich auf ihren Sonntagsschuhen näher heran und schubsten die Kartoffeln und das Brot, die am Ufer lagen, ins Wasser. Als das nichts brachte und die Immigranten Woche um Woche einfach am Sonntag weiterangelten, schubsten

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