Unter dem Deich
beim ersten Versuch und mit den besten Noten, während Piet schon zum zweiten Mal durchfiel. Weil sie es sich nicht erlaubte, ihn deswegen zu verachten, hatte sie Mitleid mit ihm. Und es war, als binde dieses Mitleid, diese Anteilnahme sie viel stärker an Piet, als Verliebtheit das jemals hätte bewirken können. Sie fühlte sich schuldig, weil sie sich, tief in ihrem Inneren, hoch über Piet erhaben fühlte, und aus diesem Schuldgefühl erwuchs eine eigenartige Zuneigung.
Dann stand in der Nieuwstraat ein Tante-Emma-Laden zum Verkauf. Mit etwas Geld von Piets Eltern und einer zusätzlichen Hypothek konnten sie den Laden kaufen, und so eröffneten sie, mit ihrem Diplom als Einzelhandelskaufmann, ein eigenes Geschäft.
»Glück muss man haben«, sagte ihr Vater, »wegen der Wohnungsnot müssen alle anderen fünf oder sechs Jahre auf eine Wohnung warten, und ihr habt nun nach zwei Jahren einen hübschen Laden.«
Hätte ihr Vater das nicht gesagt, dann wäre ihr vielleicht nie bewusst geworden, wie sehr ihr die Aussicht, einen eigenen Laden zu haben, zuwider war.
Sie heirateten bescheiden. Sie lebten bescheiden und arbeiteten hart. Mit seiner sanften Stimme und seinem überaus kultivierten Auftreten bezauberte Piet alle Kunden. Der Laden lief. Nach ein paar Jahren konnte er ein benachbartes Geschäft dazukaufen und die beide Lokale zu einem geräumigen Laden verbinden.
Sie bekamen keine Kinder. Piet drängte sie, sich untersuchen zu lassen. Sie ging zum Hausarzt, der sie zu einem Gynäkologen in Vlaardingen überwies. Mit dem Zug fuhr sie hin, durchstreifte ziellos die Stadt und dachte: »Vielleicht glauben ja die Menschen hier, ich würde auch in Vlaardingen wohnen.« Sie betrachtete die Frauen auf dem Schiedamseweg und sah, dass sie hübscher, fröhlicher und eleganter aussahen als zu Hause. Zu Piet sagte sie, sie sei untersucht worden und müsse noch einmal hin. Wieder fuhr sie nach Vlaardingen und kaufte dort einen Lippenstift, Lidschatten, Mascara und eine Puderdose. Als sie, auf einer Bank in ’t Hof, umgeben von gurrenden Turteltauben, einen Hauch Lippenstift auftrug, da war es in dem Moment, als sie den Duft roch, so, als brächte sie ihre Lippen in Sicherheit. Sie öffnete ihr Haar, ging in der Sonne spazieren und dachte: »Ich bin in der Sandelijnstraat geboren worden.« Sie spazierte die Hoogstraat entlang, betrachtete all die ruhig herumgehenden Vlaardinger; sie ging über die Hafenbrücke zum Schiedamseweg und dachte an das, was Herr Cordia ihr ins Poesiealbum geschrieben hatte:
Sei zufrieden auf der Welt,
sei zufrieden mit dem Leben,
das einzig wahre Glück,
kann nur der Herrgott geben.
Sie umklammerte ihre Handtasche und versuchte zu verstehen, warum gerade dieses Gedicht Abgründe der Unzufriedenheit zu enthüllen schien.
Von jetzt an fuhr sie regelmäßig nach Vlaardingen, »zum Gynäkologen«. Häufig offerierte man ihr, wenn sie zurückkam, ein Exemplar der Frohen Botschaft , das sie höflich ablehnte. Sie sagte zu Piet (und hasste sich selbst, weil sie seine Gutgläubigkeit ausnutzte), sie brauche Geld, um den Gynäkologen zu bezahlen. Ohne zu zögern, überreichte er ihr den Betrag, den sie genannt hatte, und sie dachte: »Ich habe überhaupt kein eigenes Geld. Ich verfüge nur übers Haushaltsgeld. Ich muss zusehen, dass ich eigenes Geld bekomme.«
Wenn der Zug leer war, schminkte sie sich schon unterwegs im Spiegel eines verschließbaren Abteils. Dann hatte sie sich »in Sicherheit« gebracht, ehe sie in Vlaardingen ankam. Von dem Geld für den Gynäkologen kaufte sie sich Schuhe mit hohen Absätzen und ein Kostüm. Als sie sich während einer der Zugfahrten nach Vlaardingen in der Toilette umzog, wurde sie nicht rechtzeitig fertig. Der Zug hielt in Vlaardingen und beschleunigte wieder. Mit pochendem Herzen blieb sie in der Toilette. In Rotterdam verließ sie das WC und stieg aus. Sie spazierte auf ihren Pfennigabsätzen und in dem Kostüm die Lijnbaan entlang, sich der Tatsache bewusst, dass sie ein großes Risiko einging. Kein aufrichtiger Sluiser, das wusste sie, würde je durch Vlaardingen spazieren oder dort einkaufen. Wer außerhalb von Maassluis einkaufen wollte, der fuhr in »die Stadt«, wie Rotterdam immer genannt wurde. In der Stadt kaufte man vor allem Kleider bei C&A, und oft hatte sie die Daheimgebliebenen abends fragen hören: »Was gefunden in der Stadt?« »Ja«, sagten die Ausflügler dann und deuteten auf ein neues Kleid, »ich hab was gefunden. In der Stadt findet
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