Unter dem Deich
man immer was.«
Sie wusste, dass sie in der Stadt Sluisern begegnen konnte. Sie wusste allerdings auch, dass die Chance an einem ganz normalen Wochentag sehr klein war. Sluiser fuhren nur am Samstagnachmittag in die Stadt. Sie riskierte es. Vorsichtshalber kaufte sie eine Sonnenbrille. Sollte auf der Coolsingel trotz allem ein Sluiser unterwegs sein, dann war sie durch Make-up, Kostüm, offene Haare und vor allem durch die Brille zumindest getarnt. Als sie am Rathaus vorbeikam, wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie nichts lieber wollte, als auch an einem Samstagnachmittag einmal hier herumzugehen, vor den Augen aller in der Stadt einkaufenden Sluiser. Sie wollte sie sehen, an ihnen vorübergehen, ohne erkannt zu werden. Sie wollte sie provozieren, herausfordern. Erst dann, wenn sie wirklich nicht erkannt wurde, wäre sie wirklich in Sicherheit. Doch wie sollte sie an einem Samstagnachmittag wegkommen? Sie würde im Geschäft helfen müssen. Außerdem konnte sie nicht behaupten, sie habe einen Termin beim Gynäkologen, eine Ausrede, mit der sie sowieso vorsichtiger umgehen musste.
Sie sagte zu Piet, sie wolle einmal in die Stadt. Er flüsterte: »Kein Problem, fahr doch am Dienstagnachmittag, wenn der Laden zu ist.«
»Würde ich ja, aber dann sind die Geschäfte in der Stadt auch geschlossen«, erwiderte sie.
»Dann fahr am Montag oder Mittwoch«, flüsterte er, »dann ist hier nicht viel los, und ich komme auch allein zurecht.«
»Ist gut«, sagte sie.
Wenig später, der Umsatz stieg immer weiter, stellte Piet ein nettes fünfzehnjähriges Mädchen als Verkäuferin ein, und das nahm ihr »wieselflink«, wie Piet sagte, alle Arbeit ab. Nicht einmal am Samstagnachmittag wurde sie noch gebraucht.
»Ich würde gern am Samstagnachmittag in die Stadt fahren«, sagte sie, »dann ist dort so wunderbar viel los.«
Piet runzelte die Stirn. »Am Samstagnachmittag?«, flüsterte er verwundert.
»Ja«, sagte sie, »ein Mal.«
Er nickte lange. Es war, als wollte er sich selbst durch sein Nicken davon überzeugen, dass nichts dagegensprach.
Sie nahm einen frühen Zug. Trotzdem war es so voll, dass sie sich nicht in Sicherheit bringen konnte. Sie stieg in Vlaardingen aus, ging zum ’t Hof, zog sich dort um und schminkte sich in den Sträuchern. Dann ging sie zurück zum Bahnhof und kaufte eine Anschlusskarte zweiter Klasse von Vlaardingen nach Rotterdam. In der zweiten Klasse musste sie nicht fürchten, dass sie Sluisern begegnete. Die fuhren alle, sparsam, wie sie waren, dritter Klasse. Wenn überhaupt Sluiser in der zweiten Klasse saßen, dann waren das Lotsen von über dem Deich, die sie noch nie gesehen hatten. Sie setzte im Zug die Sonnenbrille auf. Als der Zug hinter Schiedam über die Eisenbahnbrücke ratterte, kamen zwei ihr bekannte Sluiser durch den Mittelgang. Sie erschrak heftig, aber die beiden gingen vollkommen desinteressiert an ihr vorbei. Sie atmete auf, die Feuerprobe war bestanden. In der Stadt ging sie auf hohen Absätzen die Coolsingel hinunter und spazierte dann über die Lijnbaan, wobei ihr das Lied »Wir müssen uns nicht zieren, wenn wir über die Lijnbaan flanieren« von Ali Cyaankali durch den Kopf ging. Sie konnte nicht verstehen, warum ihr das Lied jetzt noch vulgärer vorkam als sonst.
An diesem Nachmittag wurde sie ein anderer Mensch. Es fühlte sich an, als müsste sie nie wieder in die Sandelijnstraat zurückkehren. Alles, was sie bedrückte – die nicht abgeschlossene Fachoberschule, ihre friedliche, faltenlose, todlangweilige Ehe mit dem ewig flüsternden Gatten, der nie ein unziemliches Wort sprach –, war belanglos, solange sie in Rotterdam spazieren ging, in der warmen Sonne, die eine Sonnenbrille verlangte, solange sie offene Schuhe mit Pfennigabsätzen trug und elegante Deuxpièces und echte Nylonstrümpfe mit Nähten, die genau in der Mitte ihrer Waden verliefen.
Sie war schon an vielen, meist aus der Ferne zu erkennenden, schlenkernd umherwutschenden Sluisern vorbeigegangen, als sie ihren Nachbarn von gegenüber, von über dem Deich, näher kommen sah. Vom Fenster des Wohnzimmers über dem Laden aus hatte sie schon oft in die Küche seines vier Meter höher gelegenen Hauses geschaut. Es hatte sie gewundert, dass er, ein echter Junggeselle, so viele Stunden in der Küche verbrachte.
»Ständig ist er in der Küche«, hatte sie gedacht, und dann fiel ihr ein: »Wenn ich ihn sehe, sieht er mich auch. Er wird denken: Ständig sitzt sie im Wohnzimmer.« Sich ständig im
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