Unter dem Deich
im Vergleich zu einem armen Schaf aus der Sandelijnstraat. Aber das ist das Einzige, was ich von unserer Faust -Lektüre in der Schule behalten habe. Weil es einfach so unglaublich wahr ist. Du kannst nicht vor dir selber fliehen. Als Kind hätte ich genau das so gern gewollt. Mich verkleiden, vermummen, ich habe davon geträumt, Schauspielerin zu werden. Ich träume immer noch davon! Und was ist aus mir geworden? Die Frau eines Pastors! Na ja, es stimmt allerdings, dass man dafür auch eine verdammt gute Schauspielerin sein muss. Gott, Ien, du weinst doch nicht etwa? Gut, du stammst aus einem wunderbaren Arme-Leute-Viertel, und ich habe mit Hängen und Würgen und zweimal Sitzenbleiben das Abitur geschafft, was willst du also?«
»Was man erreicht hat, ist nichts; was man, aus welchen Gründen auch immer, nicht hat erreichen können, das bleibt für immer.«
»Jetzt hör mir mal gut zu, ich bin die Frau eines Pastors. Steht nicht irgendwo in dieser komischen Bibel: Wir wollen nicht auf das schauen, was hinter uns liegt, sondern lieber auf das, was vor uns liegt? Ich habe einen Plan, einen ganz wundervollen Plan. Aber zuerst gehen wir etwas essen, und dann werde ich ihn dir verraten, und danach, um sieben, gehen wir ins Kino und schauen uns Das Fenster zum Hof an.«
Während des Essens wurde ihr erneut bewusst, wie groß der Unterschied zwischen jemandem von unter dem Deich und einem wohlerzogenen Mädchen war. Niemals würde sie sich die Selbstverständlichkeit, die Beiläufigkeit zu eigen machen können, mit der Maud für sie beide bestellte. Und ihr wurde auch bewusst, wie unmöglich, wie aussichtslos es war, jemandem wie Maud oder irgendeinem von über dem Deich zu erklären, warum sie in Restaurants niemals diese Leichtigkeit haben würde, diese gewisse Souveränität, mit der Maud bei Kellnern und Obern ihre Bestellungen aufgab. Schon so ein Satz wie: »Wir hätten gerne einen Aperitif« würde sie, das wusste sie genau, nie über die Lippen bringen. Es kam ihr so vor, als würde jemand, der im Restaurant aß, ganz grundsätzlich akzeptieren, dass die Menschheit in Bediente und Diener aufgeteilt war. Auswärts essen implizierte und bestätigte die Ungleichheit. Sie schaute sich in dem sparsam beleuchteten Restaurant um und sah an den Tischen niemanden, der unter dieser Ungleichheit gebückt ging. Sie dachte: »All die Leute, die hier sitzen, rühmen sich bestimmt der Tatsache, dass sie sensibler sind, dass sie einen feineren Geschmack, mehr Kultur haben als die Menschen aus der Sandelijnstraat, aber in Wahrheit sind sie so abgestumpft, dass sie sich ohne Gewissensbisse bedienen lassen.« Sie betrachtete die weiße Serviette, ein Objekt, das in der Sandelijnstraat nur in dem Ausdruck »zu groß für eine Serviette, zu klein für ein Tischtuch« vorkam. Sie war sich bewusst, dass sie Messer und Gabel – Besteck, das in der Sandelijnstraat noch nie jemand bei einer warmen Mahlzeit zur Hand genommen hatte – nie so würde benutzen können, wie Maud es tat, die seit Kindesbeinen daran gewöhnt war. All ihre Bewegungen kamen ihr hölzern und plump vor, ohne die unübersehbare Grazie, die auf der anderen Seite des Tisches so beiläufig an den Tag gelegt wurde. Sie fühlte, die Ober wussten, sahen, erkannten, dass sie ein Mädchen aus dem einfachen Volk war und immer bleiben würde. Sie wandten sich an Maud, fragten Maud, ob es schmeckte, ließen Maud den Wein kosten, brachten Maud die Rechnung. Sie dachte an Goethes Zeilen. Auf der Fachoberschule hatte sie genug Deutsch gelernt, um die Verse mehr oder weniger verstehen zu können.
»Wie könnte man auch glauben, eine Perücke würde etwas ändern.«
»Selbst wenn«, sagte Maud, »du würdest keine brauchen. Du müsstest nur mal zu einem guten Friseur gehen und dir die Haare schneiden lassen. Du würdest dich wundern. Ich glaube übrigens, dass Goethe sich irrt. Man kann sich sehr wohl verändern. Vor allem heutzutage. Du solltest …«
»Ja, ich weiß, meine Nase«, sagte sie unglücklich.
»Du musst dich nicht gleich unters Messer legen«, sagte Maud, »ein bisschen Make-up würde schon Wunder bewirken. Und deine Hände … glaub mir, du solltest deine Nägel wachsen lassen.«
»Lange Nägel fühlen sich so unangenehm an.«
»Daran gewöhnst du dich.«
»Ach, ja. Bestimmt so wie an die Armut.«
»Wenn man sich an Armut gewöhnt, dann gewöhnt man sich garantiert auch an lange Nägel. So, jetzt aber zu meinem Plan, ich sterbe in eurem elenden Kaff. Soll
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