Unter dem Deich
der Zuiderkerk gepredigt. Als der Gottesdienst beginnen sollte, habe ich plötzlich gedacht: Mein Gott, muss ich mir jetzt wieder eine halbe Stunde lang die Stimme anhören, die ich schon jeden Morgen beim Frühstück höre und die auf der Kanzel jeden Satz drei- oder viermal wiederholt, nur um diese blöde halbe Stunde herumzubekommen. Also habe ich mich aus der Kirche geschlichen und bin eine Weile in der Gegend herumgegangen. Du kennst dich in der Gegend aus?«
»Ja«, sagte sie heiser.
»Hübsch dort. Ein echtes Arme-Leute-Viertel. Enge Straßen ohne Bürgersteig. Die Hoekerdwarsstraat und die … wie heißt sie gleich wieder … die St. Aagtenstraat und … na, sag schon, o ja, die Sandelijnstraat. Dort sind Burschen rumgelaufen, die auch zu viert die schriftliche Division nicht verstehen, aber garantiert können sie wahnsinnig gut Slowfox tanzen. Und da haben auch so kräftige Mädchen mit unglaublich hohen Frisuren gestanden, turmhoch! Wie kriegen sie das hin?«
»Mit Kaninchendraht.«
»Mit Kaninchendraht? Weißt du das genau?«
»Ja, die Leute halten in ihren Hinterhöfen Kleinvieh, und da bleibt natürlich mal ein Stück Draht übrig, und damit …«
»Mit Kaninchendraht! Irre. Ich wünschte, ich hätte auch so lange blonde Haare, dann könnte ich mir so eine Turmfrisur machen. Und dann würde ich auch so einen Petticoat …«
»Ich denke nicht, dass das echte Petticoats waren. Bestimmt haben sie sich bei De Neef & Co. ein paar Fassreifen geholt und die in ihre Unterröcke genäht.«
»Meinst du? Nun, es sah jedenfalls super aus! Sie sahen wirklich wie schreckliche Schlampen aus! Und da waren auch noch Burschen in schwarzen Lederjacken, mit Mopeds, die die ganze Zeit geknattert haben, aber nie weggefahren sind. Ab und zu heben sie ein Vorderrad in die Luft und geben Gas. Mann, was für ein Viertel! Ein paar der Mädchen hatten ihre Nägel mit einer Farbe gelackt, die ich noch nie gesehen habe.«
»Das ist kein Nagellack, dafür haben sie kein Geld, das ist Mennige.«
»Mennige? Mensch, was du nicht alles weißt.«
»Weil ich dort geboren bin.«
Maud blieb stehen. Vorwurfsvoll sagte sie: »Und das sagst du mir erst jetzt?«
Sie ging auf ihren Pfennigabsätzen ein Stück weiter, hielt wieder an und sagte: »Ich habe Lust, mich irgendwo hinzusetzen. Wo gibt es hier ein nettes Café mit Terrasse?«
Als sie schließlich ein Café gefunden hatten – sie hatte nie zuvor auf einer solchen Terrasse gesessen, weil es unter dem Deich keine Cafés und Restaurants gab –, fragte Maud: »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«
»Du hast nie danach gefragt.«
»Ach, komm, du hast dich nicht getraut, es zu erzählen. Schämst du dich, weil du aus einem Arme-Leute-Viertel stammst?«
»Ich schäme mich, weil ich mich deswegen schäme.«
Maud wiederholte den Satz, dachte eine Weile nach und sagte dann: »Also eigentlich findest du, dass du dich nicht schämen müsstest. Aber warum solltest du auch? Ich stelle es mir ganz wunderbar vor, in einer solchen Gegend aufzuwachsen.«
»Ach, ja? Meinst du? In einem Haus, das so klein ist, dass du nirgendwo ungestört deine Hausaufgaben machen kannst und es deshalb nicht schaffst, die Fachoberschule abzuschließen? In einem Viertel, wo die Menschen immer nur über ihre Krankheiten und Wehwehchen sprechen? Glaubst du, es ist schön, inmitten von Menschen aufzuwachsen, die immer nur in höhnischem Ton von Büchern, Gemälden und schönen Kleidern sprechen? Inmitten von Menschen, die bei jedem Mord, der begangen wird, sagen: Der gehört an den höchsten Baum?«
»Das kann nicht schlimmer sein, als die Frau eines orthodox-calvinistischen Pastors zu sein.«
»Das sagst du, die du dir alles erlauben kannst, die Abitur hat, die … die, wenn sie etwas wollte, nie zu hören bekommen hat: Wenn Asche Mehl wäre, würden wir jeden Tag Pfannkuchen essen. Oder: Auch wer Armut kennt, buckelt nicht für ’nen Cent.«
»Das ist doch ein hübscher Reim«, sagte Maud.
Sie schwieg, saß einfach nur da, schaute auf ihre großen plumpen Hände, schaute auf Mauds wunderschöne feine Hände und schluckte einige Mal. Maud sagte tröstend, kichernd:
»Du bist am Ende – was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
du bleibst doch immer, was du bist.«
Maud schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Wie gemein von mir, Goethe im Original auf Deutsch zu zitieren! Als hätte ich dir zeigen wollen, wie gebildet ich bin
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