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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Mutter brauchen, weilsie diesen Verlust noch so viel weniger verstehen können als Martina selbst.
    Sie streichelt die Plexiglasglocke. Sie kann nicht aufhören damit.
    »Martina«, sagt Frank. »Bitte. Tina. Lass uns jetzt gehen.«
    »Ich kann Jonny nicht alleine lassen. Es ist so dunkel hier. So kalt.«
    »Er ist jetzt in Sicherheit, da, wo er ist.«
    Sicherheit. Martina dreht sich herum, begegnet den Augen ihres Mannes, erschrickt. Er muss abgenommen haben, Bartstoppeln verdunkeln seine hageren Wangen. Oder täuscht sie sich? Sie versucht sich zu erinnern, wie er früher aussah. Ein Mann, kräftig genug, sie jederzeit auf Händen zu tragen. Wie ein Trugbild erscheint diese Erinnerung nun.
    »Ich war Freitagnachmittag im Pfarrheim«, sagt Martina. Spricht endlich diese fünf Worte aus, die sie seit Tagen zu ersticken drohen.
    Frank krümmt sich zusammen, begräbt das Gesicht in seinen Händen, die sie niemals hatte loslassen wollen und nun nie mehr ergreifen kann.
    »Die Gesprächsgruppe war gut. Aber irgendwann hatte ich genug«, flüstert er in seine Hände. »Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte nicht mehr zuhören. Ich wollte einfach einmal in der Woche ein paar Stunden Zeit und Ruhe.«
    »Davon hast du mir nie etwas gesagt.«
    »Ich wollte dich nicht verletzen.«
    Ein bitteres Geräusch. Ihr eigenes missglücktes Lachen, wird Martina bewusst, während Frank schon weiterspricht.
    »Volker hatte dann die Idee mit dem Angeln. Einfach dasitzen und warten. Meistens allein, manchmal zu zweit. Manchmal im Regen, manchmal in der Sonne. Kein Lärm, keine Kollegen, keine Kinder, keine Forderungen.«
    »Angeln.«
    »Ich hätte es dir natürlich sagen sollen. Ich habe mich nicht getraut. Ich dachte, du würdest nur sagen, ich solle die Kinder mitnehmen.«
    »Angeln!«
    »Ich weiß, es war unfair, du brauchst ja auch Zeit und musstest auf deinen Theaterkurs verzichten …«
    »Wo?« Mehr Schrei als Frage, weil sie die Antwort schon kennt, bevor Frank stammelnd beteuert, dass er unschuldig ist; dass sie ihm glauben muss; dass es ein schlimmer, grausamer Zufall sein muss, dass Jonny ausgerechnet dort gefunden worden ist, wo er, Frank, im letzten Jahr geangelt hat.
    »Ein Zufall, oder jemand will mir was anhängen. Aber nicht ich, Tina. Nicht ich.«
    Sie konzentriert sich wieder auf Jonny, lässt Frank reden, blendet ihn aus. Denkt an die 20000 Euro, die verschwunden sind und wieder aufgetaucht. Versucht sich an die Freitagabende zu erinnern. Frank muss doch etwas erzählt haben, wenn er heimkam. Sie müssen doch über die Gruppe gesprochen haben, manchmal zumindest, wenn die Kinder schliefen und sie nicht sofort den Fernseher anschalteten, zu erschöpft für ein Gespräch.
    »Bitte, Tina!«
    Sie hört ihn aufstehen, ein leises Kratzen der Metallstuhlbeine auf dem Boden. Sie dreht sich herum, lässt Franks Bewegung gefrieren.
    »Du lügst«, sagt sie.

    Judiths alter Büroplatz ist neu belegt, Millstätt schickt sie ins Praktikantenzimmer, ein dunkles Kabuff am Ende des Flurs, das sie immerhin mit niemandem teilen muss, denn dafür ist es zu klein. Auch Manni muss sich neu einrichten, provisorisch zunächst, auf Holger Kühns Platz, der im Urlaub ist. Mannis alter Schreibtisch im selben Zimmer gehört jetzt dem Anfänger Ralf Meuser, hinter seinem Rücken hängen ordentlich gerahmte Landschaftsfotografien der schottischen Highlands. Beinahe erwartet Judith, dass Manni protestiert und darauf besteht, seine Pokale und Vereinswimpel wieder an ihre angestammte Wand zu hängen, aber er nickt dem Anfänger einfach zu, lässt sich in Holger Kühns Bürostuhl fallen und schaltet den Computer an.
    Sie haben keine Zeit für Befindlichkeiten. Personenrecherche steht an, so haben sie es auf der Rückfahrt von der Schule beschlossen. Eine vertiefte Hintergrundanalyse ihrer Hauptverdächtigen, denn bislang hat sich darum niemand kümmern können. Bei allen zu überprüfenden Personen fehlen ihnen bislang handfeste Indizien und Motive. Und das, obwohl Manni seit über einer Woche quasi rund um die Uhr am Fall Jonny Röbel gearbeitet haben muss und dabei wirklich keine noch so dünne Spur ausgelassen hat.
    Judith schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, schwarz, weil die Milch sauer ist, einige Dinge ändern sich im KK 11 eben doch nicht, auch wenn die Akteure wechseln. Sie öffnet das Fenster ihres neuen Büros, schaut über den Autobahnzubringer hinweg, glaubt, hinter Bürobauten ein Stück Rhein zu erkennen. Grau wie der Himmel, aus dem es

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