Unter dem Eis
Stufe des Atriums, gut sichtbar für alle, ein blondes Mädel im Arm, vermutlich Tims Cousine Ivonne. Unter ihnen hippeln ein paar Jungs auf den Stufen herum, bereit, jedes Wort Viktors aufzuschnappen wie hungrige Welpen. Ein ebenfalls wasserstoffblondierter Halbwüchsiger läuft jetzt auf die Gruppe zu, er wirkt kräftiger als die anderen Schüler, auf eine andere Art selbstbewusst.Sobald Viktor ihn entdeckt, lässt er von seinem Mädel ab. Gemeinsam erklimmen die beiden Jugendlichen die Böschung über dem Atrium, der wasserstoffblonde Neuzugang scheint sich über irgendetwas aufzuregen und redet auf Viktor ein.
Manni sieht den Direktor an. »Wer ist das, der blonde Junge da über dem Atrium, neben Viktor Petermann?«
Der Direktor schüttelt den Kopf. »Ein Bekannter von Viktor, soweit ich weiß. Kein Schüler unserer Schule.«
»Ralf Neisser?«, fragt Manni. »Genannt Ralle?«
Überrascht sieht der Direktor ihn an. »Ich glaube, ja.«
Manni rennt los. Er weiß nicht, warum, vielleicht ist das Quatsch, vielleicht hat ihn die Krieger mit ihren Theorien einfach kirre gemacht. Trotzdem hat er das Gefühl, dass er sich diesen Ralle vorknöpfen muss, jetzt, sofort. Dass dieser Ralle ein Schlüssel ist. Ein wichtiger Zeuge im Fall Jonny Röbel, vielleicht sogar mehr. Ein Täter. Viktors Kumpel, mit dem er vor einer Woche zusammen war, als Jonny verschwand. Viktors Kumpel, den Viktors Vater nicht mag.
Er erreicht den Schulhof im selben Moment, als der Gong das Ende der Pause verkündet. Schülermassen quellen ihm entgegen, er kämpft sich durch und erreicht das Atrium, doch weder Viktor noch Ralle sind noch da. Nur eine fette Taube fällt über die Reste eines Pausenbrots her.
»Vielleicht täuschen wir uns. Vielleicht hat Jonny gar nicht im Wald etwas gesehen, sondern hier in der Schule«, sagt Judith Krieger, die ihm gefolgt ist, ohne dass Manni es bemerkt hat. »Hier in dem Gebüsch gibt es überall Trampelpfade. Für einen Jungen, der gern Indianer spielt, ist das doch das Paradies.«
Bis der Feind kommt, denkt Manni. Wer immer das ist. Aber was ist mit dem Autobahnparkplatz und mit Frank Stadlers geheimem Treffen dort? Was ist in dieser Schutzhütte passiert? Und welche Rolle spielt Viktors Vater, der ebenfalls im Wald unterwegs war, als Jonny verschwand? Wieder werfen alle Fakten nur neue Fragen auf. In Mannis Schläfen meldet sich der Kopfschmerz zurück.
»Wir müssen mit Tim Rinker sprechen, er weiß etwas, er muss einfach etwas wissen«, sagt er.
Wieder bespricht er den Anrufbeantworter der Familie Rinker. Bittet um Rückruf. Dringend. Wieder wählt er die Nummer der Klinik, wo ihm eine gehetzte Stationsschwester versichert, dass Tims Vater noch immer operiere. Eine schwere Herz-OP, es könne noch Stunden dauern. Auch die Streife, die sie vor dem Rechtsmedizinischen Institut postiert haben, weiß nichts Neues zu berichten. Keiner der Stadlers hat bislang das Gebäude verlassen.
»Fahren wir ins Präsidium«, schlägt Judith Krieger vor. »Oder glaubst du, dass auch Tim …«
»Nein«, sagt Manni. Zu hastig, zu laut, das hört er selber.
Hoffnung. Es erscheint ihm wie ein Fremdwort.
Sie hat nicht gedacht, dass Jonny so friedlich aussehen würde. So beinahe glücklich, als schlafe er in seinem Bett, behütet von Leopold dem Glühwürmchen und dem schnarchenden Dr. D. Das Gesicht ihres Schwagers. Ein bisschen auch das Gesicht ihrer Schwester. Ein winziges bisschen sogar Martinas eigenes Gesicht. Blass. Unter Glas. Mit geschlossenen Augen. Jonny ist gestorben, nein, zu Tode geprügelt worden wie ein räudiger Hund. Jonny ist tot, für immer tot.
Sie sollte weinen, schreien, mit den Fäusten auf diese schrecklich sterile Glasglocke trommeln, die sie von ihrem Stiefsohn trennt. Ihrem Patensohn, den sie, entgegen ihres Taufversprechens, nicht zu beschützen verstand. Heulen, schreien, um sich schlagen, damit dieser zentnerschwere Druck in ihrer Brust nachlässt, wenigstens ein bisschen.
Sie kann es nicht. Vielleicht will sie es auch gar nicht, weil sie weiß, dass das, was kommt, wenn sich diese Stahlklammer öffnet, die sich um ihr Herz krallt, noch schlimmer sein wird, noch unerträglicher. Diese Stahlklammer, die es ihr ermöglicht, in dieser schrecklichen schwarzen Katakombe zu stehen und Kraft zu sammeln für die Kinder, die ihr noch geblieben sind. Unschuldige Kinder, die sie brauchen, weil sie einen geliebten großen Bruder verloren haben, der für sie da war, seit sie denken können. Die ihre
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