Unter dem Eis
nicht regnen, aus dem keine Abkühlung kommen will. Sie schiebt den Berichtsberg »Jonny Röbel« beiseite, fährt den PC hoch, dreht sich eine Zigarette. Früher haben sie hier im Praktikantenzimmer manchmal Internetrecherchen gemacht. Auch das hat sich nicht geändert, der Rechner hat Zugang zum World Wide Web. Sie loggt sich in ihren E-Mail-Account ein, findet die versprochene Mail von Charlottes Zahnarzt, leitet die Röntgenbilder weiter nach Kanada. Ein Klick nur oder ein paar Stunden Flug und man ist in einer anderen Welt – ob man das auch verkraftet, steht auf einem anderen Blatt. Früher haben sich die Indianer Nordamerikas angeblich nach einer Reise mit der Bahn erst einmal neben die Schienen gesetzt und gewartet, damit ihre Seele sie wieder einholen konnte. Hör auf mit dem Ethnokitsch, der hilft dir nicht weiter, Judith.
Sie steht wieder auf und raucht ihre Zigarette am Fenster zu Ende. Zwei Zeitverschiebungen in sechs Tagen, Nächte unruhigen Schlafs unter freiem Himmel, seit über 24 Stunden überhaupt keine Stunde Schlaf. Köln kommt ihr unwirklich vor, sie hat die Bodenhaftung verloren, ist nicht hier, nicht anderswo. Sie trinkt den Kaffee aus, der sie nicht wach macht, nur ihren Herzschlag beschleunigt und ihren Mund austrocknet. Sie geht ins Damen-WC, lässt kaltes Wasser überihre Handgelenke laufen, schaufelt es in ihr Gesicht, hält den Mund unter den Hahn und trinkt.
Zurück am Computer, ruft sie das Bundeszentralregister auf, dann POLAS. Hagen Petermann ist nicht vorbestraft. Genauso wenig wie sein Sohn Viktor oder Jonnys Stiefvater. Sie gibt »Hagen Petermann« in Google ein, findet den Eintrag seiner Baufirma in mehreren elektronischen Branchenverzeichnissen, als Referenz nennt er unter anderem das Land Nordrhein-Westfalen. Auch der Indianerclub hat eine eigene Website, ganz offensichtlich mit mehr Enthusiasmus als Können gestaltet: www.koelschesioux.de. In der Fotogalerie kann Judith nacheinander Frank Stadler identifizieren, Jonny mit Indianerfeder im Haar und Dackel im Arm und auf einem anderen Bild Hagen Petermann mit seinem Sohn Viktor, ein älteres Foto offenbar, denn Viktors Haare sind noch nicht blond gefärbt. So kommt sie nicht weiter.
Wieder stellt sie sich ans Fenster, atmet die staubige Stadtluft, die in ihren Lungen beißt wie billige Zigaretten. Sie hat keine Kraft und hofft zugleich, dass es tief in ihr doch noch eine Reserve gibt, die sie durch diesen Tag bringen wird und durch die Nacht und durch den nächsten Tag. Eine Reserve, die es ihr ermöglichen wird zu beweisen, dass sie wieder fit ist, eine würdige Kommissarin der Kölner Mordkommission. Sie muss noch eine Recherche durchführen, noch einen Namen eingeben. »Becker, David«, die Suchfunktion starten, den richtigen Becker finden und sehen, was sie nicht wissen will. Sie schafft es nicht. Sie überquert den Flur, zurück zu Mannis Büro. Auch seine Recherche war bislang ergebnislos. Millstätt lehnt im Türrahmen und spricht mit dem Anfänger über den Touristenmörder.
»Wir brauchen Verstärkung, Axel«, sagt Judith.
Der KK-11-Leiter schüttelt den Kopf, verschwindet im Gang. Der Anfänger trottet hinter ihm her.
»Das Labor hat angerufen«, sagt Manni. »An einem Teppichrest, den die Kriminaltechniker in Frimmersdorf sichergestellt haben, sind Blutspuren. Das Blut stammt von Jonnys Dackel. Sie glauben, dass der Dackel in dem Teppichrest transportiert worden ist. Tot.«
»Bleibt die Frage: Wer?«
»Und womit? Und von wo?«
»Was für eine Scheiße.«
»Ja.«
Möglichkeiten. Zu viele Möglichkeiten, zu wenig Personal und Zeit, zu wenige Anhaltspunkte. Hinzu kommt das ungute Gefühl, dass der Junge Tim Rinker nicht auffindbar sein könnte, verschwunden wie Jonny und Charlotte. Judith versucht, dieses Gefühl beiseite zu schieben, als könne sie ein Unheil abwenden, indem sie es ignoriert. Solange niemand den Jungen vermisst meldet, können sie nichts tun. Oder doch? Möglichkeiten. Entscheidungen. Die alte Angst, zu spät zu kommen, weil sie etwas übersieht. Wie im November, im Wald. Manni fegt seine Akten zur Seite, als könne er Judiths Gedanken lesen.
»Ich fahr noch mal bei den Rinkers vorbei. Und dann zu diesem Neisser. Der wohnt direkt neben der Schule.«
Judith geht zurück in ihr Büro, starrt eine Weile den Monitor an. David Becker. Ihre Finger liegen auf den Tasten, bewegen sich nicht. Möglichkeiten. Paradoxien. Wirklichkeit, die anders ist, als sie erscheint. Ein grauer Himmel, der Hitze
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