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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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die Gesetze seiner Mitmenschen zu stemmen«, sagt Judith.
    »Das Gefühl von Mangel«, sagt Wallert nachdenklich.
    »Wie bitte?«
    »Bei den Tätern.« Er malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Er oder sie hat früh erfahren, dass Bindungen nicht verlässlich sind.« Noch ein Luft-Anführungszeichen. »Das ist leider so ein Standardsatz, wenn ich Gutachten über Jugendliche verfasse. Dann kommt es darauf an, was aus dem Bindungsverlust entsteht. Typischerweise folgen Phasen der Trauer, Verzweiflung und Wut. Aber wenn sich der Mangel immer wiederholt, bleibt nur noch Wut. Man fühlt keinen Mangel mehr, keine Trauer, man schlägt einfach zu. Dem typischen Täter fehlt Empathie – die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, mit sich selbst und dadurch auch mit anderen.«
    »Zumindest Viktor und Ivonne stammen aus geordneten, wohlhabenden Verhältnissen.«
    »Darum geht es nicht. Mangel hat viele Gesichter. Ein Vater, der unerreichbar durch seinen Beruf ist und zu viel fordert. Eine depressive Mutter. Eltern, die nur mit ihren eigenen Partnerproblemen beschäftigt sind. Geld ist kein Garant für Zuwendung. Wohlstandsverwahrlosung ist das Schlagwort dafür. Kurz gesagt: Die Eltern zahlen, statt sichtatsächlich auf ihre Kinder einzulassen. Falsche Vorbilder in den Medien, gerade auch in Computerspielen, kommen hinzu.«
    Die Eltern sind schuld, die Gesellschaft ist schuld. Das ist alles richtig und doch zu einfach. Später werden Juristen und Psychologen nach Rechtfertigungen suchen. Aber auch sie können nicht erklären, warum manche Kinder Opfer werden und andere Täter. Und zunächst müssen sie den Täter finden. Sie legt Tims schwarzes Bild auf den Schreibtisch, hört den scharfen Atem des Psychologen. Wieder drängen die Traumbilder ans Tageslicht. Dunkelheit, der Sog des Sees, die Rufe der Eistaucher. Nicht jetzt, hör auf, die Dinge zu vermischen, Charlotte hat hier nichts zu suchen. Auch David Becker nicht. Judith fasst ihren Füller fester. Unruhe befällt sie mit neuer Heftigkeit.
    »Halten Sie es für möglich, dass Tim Jonnys Mörder kannte und zur Rede stellte?«
    Der Psychologe dreht wieder an seinem Ehering. Starrt auf das Bild. Blättert in den Akten, so lange, dass der Druck sich in dem freundlich eingerichteten Raum bis ins Unerträgliche zu steigern scheint. Die alte Angst, zu spät zu kommen, das Töten nicht verhindern zu können.
    »Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagt Wallert schließlich. »Tim könnte kapituliert haben. Er könnte nicht nur seine geliebten Fische zerstört haben, sondern auch sich selbst.«
    »Er will sich umbringen. Wo? Wie?« Sie glaubt zu schreien, aber heraus kommt nur ein krächzendes Geräusch. Judith springt auf. »Wo?«, wiederholt sie.
    »Ich weiß es nicht«, antwortet der Psychologe. »Möglicherweise an einem Ort, an dem Tim sich sicher fühlt. Aber ich weiß nicht, wo der ist.«

    »Ich muss gar nichts sagen, mein Vater ist Anwalt«, verkündet der Schüler Lukas Krone.
    Noch so ein halbgares Gesicht mit einer zu großen Nase, denkt Manni. Noch so ein Junge, der mir nicht in die Augensieht. In irgendeinem Nebenraum des Schulgebäudes ist die Krieger soeben dabei, per Handy Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen. Suizidgefahr, hat sie hervorgestoßen, als sie Manni nach ihrem Besuch bei Tims Seelenklempner zur Lagebesprechung auf dem Schulparkplatz traf. Wir müssen den Königsforst noch mal mit einer Wärmebildkamera absuchen, vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern. Wir brauchen mehr Beamte, die entlang Tims Schulweg fragen, ob jemand den Jungen gesehen hat, wir brauchen noch mal die Hundestaffel. Ich kümmere mich drum. Also alles wieder auf Anfang, denkt Manni müde. Aber vielleicht nicht ganz, denn dass der Junge, der vor ihm sitzt, Tim Rinker gequält hat, scheint zweifelsfrei festzustehen, auch Tims Klassenlehrerin hat das inzwischen bestätigt. Doch die einzige Aussage, zu der Lukas Krone sich, abgesehen vom Hinweis auf die berufliche Tätigkeit seines Vaters, herablässt, ist, dass alles nur Spaß gewesen sei.
    Im Klassenzimmer der 9 d riecht es nach Schweiß, Staub und etwas süßlich Klebrigem. Jungmädchenparfüm vielleicht, verschüttete Softdrinks, Bonbons oder Kaugummi, der unter den Kunststofftischen klebt. Blanke Schüleraugen sehen Manni an, huschen verstohlen zu dem leeren Platz, auf dem Tim Rinker jetzt sitzen würde, wenn die Welt in Ordnung wäre. Aber was heißt schon in Ordnung. Nichts ist jemals in Ordnung, es gibt

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