Unter dem Eis
sein Tempo, sieht vor sich das Ende der Straße und freies Feld, hat keinen Atem mehr, über die mangelnde Deckung zu fluchen. Aber Viktor will nicht aufs Feld, er schwenkt abrupt nach links. Manni erreicht die Abzweigung, sein Herz pumpt in harten Stößen, sein T-Shirt ist klatschnass. Von Viktor ist nichts mehr zu sehen. Die löchrige Schotterpiste führt geradewegs zum maroden Backsteingemäuer einer leer stehenden Fabrik. Einwandfrei. Diesist ein tolles Versteck für Jungs, die unter sich sein wollen. Und ein idealer Ort, um einen Jungen gefangen zu halten, zu quälen und zu töten.
Manni nähert sich der Fabrik. Vielleicht ist es so einfach, vielleicht ist das die Lösung. Vielleicht ist der Täter, den sie so verzweifelt jagen, tatsächlich Mitglied einer Schülergang. Die wenigen Gebäude am Zufahrtsweg sind heruntergekommen und unbewohnt, auch das scheint zu passen. Diese leere Halle könnte tatsächlich ein Tatort sein.
Das Eingangstor zum Fabrikgelände steht halb offen, an einem rostigen Container lehnt Viktors Mountainbike. Manni schaltet sein Handy auf stumm, damit ihn ein plötzliches Klingeln nicht verraten kann. Er folgt einem Trampelpfad, der sich an der mit Graffiti verunstalteten Backsteinfassade entlangwindet. Hier wuchern Brennnesseln, es stinkt nach Katzenpisse, die wenigen Fensterglasreste in der Fassade sind blind. Dort im Gestrüpp liegt ein weiteres Mountainbike, ein teures Fahrrad, achtlos weggeworfen, blau und silbern wie das Meer. Tim, denkt Manni und fühlt, wie sein Herz noch ein bisschen härter pumpt. Er muss Verstärkung holen, gleich, sobald er sich einen Überblick verschafft hat.
Aus der Halle dringen leise Musik und Gesprächsfetzen, zu undeutlich, um etwas zu verstehen, aber dass sich die Sprecher streiten, ist klar. Manni schleicht an der Fassade entlang, bis er eine notdürftig mit Plastikfolie geflickte Fensterhöhle erreicht. In die Katzenpisse mischt sich das unverkennbare Aroma von Hasch. Manni drückt einen Sehschlitz in die Plastikfolie. Das Innere der Halle ist groß und leer, die Wände sind über und über mit Graffiti besprayt. In einer Ecke stehen ein paar Sperrmüllmöbel und ein Mofa. Viktor steht vor diesem heimeligen Ensemble und versperrt Manni die Sicht auf eine Person, die auf einem Sofa liegt.
» … Bullen …«, versteht Manni. »Lukas … mach da nicht mehr mit …« Im nächsten Moment macht Viktor auf dem Absatz kehrt und verlässt die Halle durch eine rostige Eisentür an der gegenüberliegenden Wand. Von Tim ist nichts zu sehen, die Person auf dem Sofa ist ganz unverkennbar Ralf Neisser. Was tun? Der Sohn des Planschbeckenkönigs nimmtManni die Entscheidung ab. Er hievt sich in eine halbwegs sitzende Position und grabscht nach seiner Wasserpfeife. Damit dürfte er erst mal beschäftigt sein. So leise und schnell wie möglich hastet Manni zurück zum Fabrikvorplatz.
Doch als er dort ankommt, hat Viktor schon sein Fahrrad erreicht. Manni greift nach seinen Handschellen, beschleunigt noch einmal, er ist so nah dran, er wird es schaffen, der Junge hat ihn noch nicht einmal bemerkt. Aber dann, wie in einem blöden Film, liegt Manni plötzlich bäuchlings im Schotter, ohne zu begreifen, wie das geschehen konnte, und Viktor wird auf ihn aufmerksam und springt auf das Rad.
»Bullen!«, schreit er gellend und rast los, ohne sich um Mannis Befehle, sofort stehen zu bleiben, zu kümmern.
Mannis rechtes Knie blutet wie Hölle, die Jeans ist zerrissen, sein Kinn tut weh und seine Handflächen scheinen zu brüllen, Splitt und Dreck haben sich hineingegraben, ein richtig geiles Tattoo. Manni hetzt zurück in die Halle, wo Neisser jetzt nicht mehr auf dem Sofa lümmelt, sondern blöde glotzend zu seinem Mofa tapst. Ein kurzer Wettlauf, ein simpler Jiu-Jitsu-Griff, der Junge tritt um sich, trifft ausgerechnet Mannis verletztes Knie. Dann ist es vorbei und Manni fixiert den haschbenebelten Neisser-Sprössling mittels Handschellen am soliden Metallrahmen eines Autositzes.
Manni humpelt auf den Hof, lehnt sich an die Backsteinwand und starrt in den fahlgrauen Himmel, bis sich sein Atem normalisiert hat. Seine Wunden pochen, sein Mund ist ausgetrocknet, sein T-Shirt schweißnass und verdreckt. Einen Moment lang wird ihm schwindelig. Er schiebt ein Fisherman’s in den Mund und telefoniert nach Verstärkung, bevor er zurück in die Halle geht.
»Wo ist Tim, was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Mann.«
»Was hat Viktor hier
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